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Channel: A Thin Red Line

A World Equal to Our Hopes

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Mit der Unschuld vom Lande bezeichnet man meist ein unbescholtenes, sich im Naturzustand befindendes naives Mädchen, das Opfer eines listigen Verführers wird. In gewisser Weise widmet sich der Regie-Poet Terrence Malick in seinen Filmen jener Unschuld vom Lande, wenn auch in anderer, genitiver, Hinsicht. Im Land, der Natur, liegt die Unschuld, die von der westlichen Zivilisation verführt wird und ihr zum Opfer fällt. Das Bild des aus dem Garten Eden verstoßenen Menschen durchzieht Malicks Œuvre von Badlandsüber Days of Heaven hin zu The Thin Red Line. Doch in keinem Film thematisierte der Texaner die gescheiterte Rückkehr ins Paradies derart wie in seinem unterschätzten Meisterwerk The New World.

In diesem, einer fiktionalisierten Wiedergabe des Pocahontas-Mythos’, spaltete der Regisseur rund acht Jahre nach seinem weithin gelobten The Thin Red Line– mal wieder – die Kritiker. „Postkartenkino mit etwas Meditationskolorit“, nannte Thomas Groh damals The New World[1], Andreas Busche schrieb in der Taz von „mythopoetischem Schmarrn“[2] und für den Kunsttheoretiker Klaus Theweleit mutierte Malicks Film „zum kolonialistischen Softporno“[3]. Positiver wurde The New World dagegen im englischsprachigen Ausland aufgenommen. So erachtete der Regisseur Mark Cousins ihn als “cinematic masterclass” und schrieb, der Film “went beyond cinema”[4]. Andere Meinungen waren noch überschwänglicher.

Für John Patterson überdauert der Film nicht nur das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts [5], sondern “with The New World cinema has reached its culmination”[6]. Matt Zoller Seitz beschrieb sich weniger als Fan den als Jünger von Malicks Werk und nannte dieses “this era’s 2001: A Space Odyssey[7]. Entsprechend bemerkte Doris Kuhn, der Film werde „entweder verdammt oder glorifiziert“[8], während Adrian Martin daran erinnerte, dass keines von Malicks Werken bei seinem Kinostart einhellig gut aufgenommen wurde [9]. Aktuell wurde jedoch nur sein jüngster – und nicht minder missverstandener – To the Wonder bei Metacritic wie Rotten Tomatoes noch schlechter von Kritikern rezipiert [10].

Wieso The New World nun gerade bei deutschen Rezensenten derart schlecht abschnitt, wo der Film doch seinen drei Vorgängern inhaltlich wie inszenatorisch auf dem Pfad folgt, bleibt unverständlich. Vielleicht übertrieb es der Regisseur mit seiner Darstellung des Pocahontas-Mythos’, den er sich für seine eigene Philosophie zu Nutzen macht. “Malick explores the ways in which history, legend and ideology combine to produce possibilities for a pluralistic ‘worldview’”, schrieb James Morrison [11]. Insofern erzählt Malick weniger die Geschichte der ersten Kolonie Jamestown, von John Smith und seiner Begegnung mit der Powhatan-Prinzessin Pocahontas, sondern bedient sich dieser als Mittel zum Zweck.

Als Handlungsrahmen dient die Ankunft der ersten britischen Kolonialisten um Captain Newport (Christopher Plummer) in Virginia 1607 und ihre Gründung von Jamestown. Zuerst in Einklang mit dem amerikanischen Ureinwohner-Stamm der Algonquin lebend, tritt Newport die Heimreise an, um Lebensmittelnachschub für die Kolonie zu besorgen. In seiner Abwesenheit überlässt er Jamestown in den Händen von Captain John Smith (Colin Farrell), der später flussaufwärts den Kontakt mit den Algonquin sucht. Deren Häuptling (August Schellenberg) nimmt Smith in seiner Mitte auf, um dessen Motive nachzuvollziehen und lässt ihn in der Obhut seiner noch jugendlichen Tochter Pocahontas (Q’Orianka Kilcher).

Pocahontas selbst ist ebenfalls eine Repräsentation der eingangs erwähnten Unschuld vom Lande, da “by virtue of her age and gender an innocent”[12]. Ähnlich wie in Badlands und Days of Heaven ist es mit ihr die naive-kindliche Mädchenfigur, die Malick als (weibliche) Erzählstimme auswählt [13]. Sekundär dazu hören wir auch von Colin Farrells Charakter das Gros seiner Gedanken aus dem Off, in gewisser Weise dienen aber Pocahontas und Smith als zwei Stimmen derselben Person – zumindest in Malicks pluralistischer Deutung. Beide sind, wie alle seine Figuren, auf der Suche nach dem Natur- und Urzustand [15]. Pocahontas erscheint nicht weniger ziellos als Smith, trotz ihrer naturalistischen Art.

Gleich zu Beginn sehen wir sie inmitten eines Flusses, die Erde als „Mutter“ ansprechend, nach der sich Pocahontas sehnt. “How shall I seek you? Show me your face”, sagt sie und fragt zu einem späteren Zeitpunkt: “Mother, where do you live?”. Ähnliche Hinterfragungen kennt man zuletzt aus The Tree of Life oder To the Wonder, in denen die Figuren sich mit ihren Fragen an Gott wenden. Gott und Mutter Erde sind in Malicks Universum dasselbe, schlicht der Ursprung des menschlichen Daseins, in dessen Schoß sich diese wieder sehnen. “You, the great river that never runs dry”, sinniert Pocahontas. “We rise from out of the soul of you.” Mit keinem seiner Filme ist Malick wohl so nah an Ralph Waldo Emerson.

“Spirit is the Creator”, schrieb dieser [14]. Und wie Pocahontas ist auch Smith auf der Suche nach dem Urgeist. “What voice is this that speaks within me?”, fragt er sich. “Guides me towards the best?” In ihm drückt Malick am stärksten seine emersonische Haltung aus. Denn es ist der vermeintliche Meuterer Smith, der buchstäblich in Ketten jene neue Welt betritt und in ihr (wieder) seine Freiheit erlangt. “I was a dead man. Now I live”, sagt er selbst und sieht sich im “fabled land” angekommen. “There life shall begin. A world equal to our hopes. A land where one might wash one’s soul pure. Rise to one’s true stature. We shall make a new start. A fresh beginning. (…) Men shall not make each other their spoil.”[16]

Endlich scheint der ruhelose und glücklose Smith am Ziel angelangt, inmitten jener neuen Welt, fern seiner eigenen Kultur [17]. Die Algonquin empfindet der britische Soldat als sanft, wohlgesinnt, liebevoll, vertrauensvoll, jede Arglist oder Betrug vermissend und Worte wie Lüge, Wiedergutmachung, Gier und Neid nicht einmal im Wortschatz tragend. “Real what I thought a dream”, gibt sich Smith so erstaunt wie bewundernd. Seine – und damit natürlich Terrence Malicks – verklärte Darstellung der Algonquin kritisierte Robert Silverman dann entsprechend als “idealisation and infantilisation, not without New Age spirituality, and at times (..) too close to Karl May and [Henry Wadsworth, Anm. d. Verf.] Longfellow”[18].

Smith bestaunt das Powhatan-Dorf ebenso wie Private Witt (James Caviezel) acht Jahre zuvor die Eingeborenen in The Thin Red Line[19]. Beide Männer sind Brüder im Geiste wie alle von Malicks Figuren ein und dieselben Charaktere in der immer gleichen Handlung zu sein scheinen [20]. Und ähnlich wie Witt wird auch Smith das Paradies abhanden kommen und er von der Realität wieder eingeholt werden. Auf den Ausflug in das harmonisch-schöne Dorf der Algonquin wartet die Trost- und Hoffnungslosigkeit von Jamestown, wo der Wahnsinn und der Hunger die Menschen zum Kannibalismus trieben. Ein gewollter Kontrast, der die beiden Zivilisationsideologien aufs Schärfste im Widerspruch zueinander zeigt [21][22].

Ein Kontrast, der auch Smith bewusst wird. “Cannot walk two paths at once”, realisiert er, “ride two horses”. Es zeigt sich, dass er weiterhin der Ruhelose ist. “It was a dream. Now I am awake.” Mit der Ankunft der Kolonialisten hat der Schatten Einzug ins Licht erhalten, das verloren geglaubte Paradies ist somit erneut korrumpiert [23]. In seiner Ruhelosigkeit reißt Smith dann Pocahontas aus der Harmonie. Sie hat zuvor den Briten als neuen Fokus ihres Lebens ausgemacht. “Two no more. One. One. I am”, schwärmt die Jugendliche. “You flow through me like a river”, sagt sie über Smith und versieht ihn mit der Metapher, die sie zu Beginn von The New World noch der Urmutter zugesprochen hatte.

Die Unschuld vom Lande wird nun enttäuscht von ihrem Verführer. Dieser ist zwiegespalten, kann weder dem Bild seiner Geliebten, noch seiner Landsleute entsprechen. Als Ausweg dient ihm nur ein weiterer vermeintlicher Neuanfang, “exchange this false life for a true one”. Den Vorschlag von Pocahontas, gemeinsam zu fliehen und sich eine „neue“ Welt zu suchen, verlacht Smith. “Where would we live? On a tree top?”, liefert er eine zynische Analogie zu Kit und Hollys Waldausflug in Badlands. “Is this the man I loved? (…) Where are you, my love?”, dringt die Stimme einer verzweifelten Pocahontas aus dem Off herein. Ihre Liebe endet am Ende so unglücklich, wie all jene Lieben in Malicks Filmen [24].

In jener Liebesgeschichte – weniger eine Geschichte über die Liebe von Pocahontas zu Smith als vielmehr eine über die Sehnsucht nach Liebe – findet sich der Hauptaspekt von The New World. Was außerhalb des Zusammenspiels der beiden Hauptfiguren geschieht, erfährt das Publikum nur nebenbei. Als wären die Charaktere nicht wirklich Teil jenes Geschehens [25]. Für die Kolonisation Virginias und den daraus resultierenden Genozid an den Ureinwohnern interessiert sich der Film kaum, was allerdings nicht bedeutet, dass er es gänzlich ignoriert. Zwischen den Zeilen führt Malick seine Kritik und Interpretation ein, allen voran natürlich die Gier des weißen Mannes nach Land und Reichtum.

Für Smith ist monetärer Reichtum “the source of all evil” und auch Emerson schrieb schon: “he who knows what sweets and virtues are in the ground, the waters, the plants, the heavens, and how to come at these enchantments, is the rich and royal man”[26]. Wie ein Zeitsprung gegen Ende jedoch verdeutlichen wird, vermochte Smith trotz all jener Jahre abseits von Virginia und Pocahontas nicht, seine Passage nach Indien zu finden. Er ist auch zum Schluss noch der Ruhelose, mit später Einsicht, dass er sein Glück bereits gefunden hatte [27]. Nicht unähnlich zu Pocahontas, die zwar in dem Tabakfarmer John Rolfe (Christian Bale) einen neuen Mann und zugleich Vater ihres Sohnes findet, aber sich selbst verliert.

“You have gone away with my life”, heißt es von ihr als Smith sie verlässt. Nachdem sie, von ihrem Volk verstoßen, als Geisel nach Jamestown verkauft wird, legt sie ihren Namen – den der Zuschauer erst im Abspann erfährt – ab und adoptiert mit ihrer Taufe als Rebecca die Kultur der Kolonialisten. Die Unschuld der Figur und damit auch die Virginias ist erschüttert. Smith, der Pocahontas’ Liebe hatte, sie aber nicht wollte, wird nun abgelöst von Rolfe, der Rebeccas Liebe will, sie aber nicht haben kann. “Once false I must not be again”, schwört sich die junge Frau, die sich dann doch dem Farmer öffnet. Ihre Assimilation wird komplettiert durch den Schlussbesuch in London. Die „alte“ Welt wird nun zur neuen Welt.

Die Suche nach dem Paradies und dem Urzustand ist für die Figur somit vorbei, “there is no going back, no question of any ‘return to nature’”[28]. Auf Smith wartet weiter seine Suche, auf Rebecca der unerwartete Tod. Mit ihr stirbt zugleich die Unschuld der Natur, die eigentliche Hauptfigur in The New World[29]. In der Rezeption des Films unterscheidet sich wiederum seine Deutung. Für Morrison behandelt er “the prospect of cultural exchange, through mutual education and sympathetic consort[30], bei Brett McCracken dagegen die menschliche Anpassungsfähigkeit. The New World is about (…) pushing on amidst hardship, pain, suffering, and striving to make the best of one’s circumstance”[31].

Diesbezüglich spiegelt Pocahontas für McCracken auch Amerika wider, “an ever changing, flexible experiment that must adapt to survive, concede setbacks and allow for dissent and frustration in order to move forward”[32]. Konträr dazu ließe sich die Adaption Pocahontas aber auch als Aufgabe ihrer Kultur zu Gunsten der Kultur der westlichen – oder in diesem Fall: östlichen – Zivilisation lesen. Dementsprechend repräsentiert nicht Pocahontas Amerika, sondern Jamestown, das seine Kultur anderen Zivilisationen aufzwingt und sie zur Assimilation zwingt. Die Entscheidung von Pocahontas zur Adaption ist durchaus aus ihrem Überlebenswillen geboren, dieser ist jedoch menschlich und nicht amerikanisch.

“I have two minds”, sagt Pocahontas an einer Stelle. “What was I? What am I now? (…) Love is unbound by limits. This love is like pain. I am… I shall be… yours.” Ihre zwei Seelen lassen sich einerseits als ihre Identitäten Pocahontas, die Algonquin, und Rebecca, die Kolonialistin, verstehen. Aber auch als ihre Liebe zu Smith, mit dem sie sich verschmolzen glaubt. Letztlich aber auch zu Gott beziehungsweise Mutter Erde. Ein philosophisches Triptychon von Malick, dessen Figuren in einander nur die Liebe zum Leben suchen [33] und die Rückkehr in einen harmonischen Urzustand, die nicht mehr möglich scheint [34]. Für Ekkehard Knörer ist der Film dann Malicks „tota allegoria der Unschuld der Welt an ihrem (...) Ursprung“[35].

Jener Ursprung liegt natürlich in der Natur, denn “nature never wears a mean appearance”[36]. Zwar treibt für Busche „der Kontrast aus Hypernaturalismus und ästhetischer Überhöhung (..) den Wäldern jede Natürlichkeit aus“[37], aber Emerson schreibt “the beauty of nature must always seem unreal and mocking”[38]. Ins Extrem treibt Malick den Verstoß aus dem Paradies dann in England, “a site of grotesque de-naturalisation”[39]. Natur findet sich hier nur noch im Garten und auch dort nur „gezähmt“ und getrimmt. Schlussendlich sind die Figuren von Pocahontas und Smith ihrem Ziel weiter entfernt als zu Beginn des Films, entweder ruhelos oder tot und damit der Tradition des Regisseurs folgend.

Dass der Texaner sich in seiner filmischen Botschaft und Inszenierung wiederholt [40], ist inzwischen nichts Neues mehr und wurde speziell in To the Wonder deutlich. In The New World bedient sich Malick jedoch gezielt eines allseits bekannten Mythos. Sein Film ist für Zoller Seitz weniger eine Geschichte denn eine Erfahrung, “a vibe, a particular way of thinking about history and drama”[41], und für Patterson “a bottomless movie, almost unspeakably beautiful and formally harmonious”[42]. In Verbindung mit den grandiosen Bildern von Malicks nunmehrigem Stamm-Kameramann Emmanuel Lubezki ist The New World in bestem literaturwissenschaftlichen Sinne als „naiv“ zu bezeichnen [43].

Zugleich ließe sich der Film selbst ebenfalls als die Unschuld vom Lande lesen, unbescholten und naiv ein Opfer seiner Kritiker geworden. “For a prestige picture it was booked with what seemed like reluctance, minimally, resentfully”, erinnert sich Cousins [44]. Dabei ist wohl keiner von Malicks wenigen Filmen derart träumerisch und märchenhaft, zugleich jedoch so konkret im Abhandeln der ewigen Fragen seines Regisseurs. Vielleicht bedarf es noch mehr Zeit, um The New World jene Anerkennung zu bescheren, die der Film verdient. Letztendlich wird aber auch der Zuschauer zur selben Erkenntnis gelangen wie Smith am Ende des Films: “I thought it was a dream… what we knew in the forest. It’s the only truth”.



Quellenangaben:

[1] Thomas Groh: The New World, in: F.LM – Texte zum Film, 15.02.2006, http://www.f-lm.de/2006/02/15/berlinale-2006-wettbewerb-the-new-world-terrence-malick-usa-2005/.
[2] Andreas Busche: Die Unschuld der Gräser, in: Taz.de, 02.03.2006, http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2006/03/02/a0158.
[3] Klaus Theweleit: Kolonialistischer Softporno, in: Zeit.de, 09.02.2006, http://www.zeit.de/2006/07/Pocahontas/komplettansicht.
[4] Mark Cousins: Praising The New World, in: Hannah Patterson (Hrg.): The Cinema of Terrence Malick. Poetic Visions of America, New York/London ²2007, S. 192-198, hier S. 193.
[5] vgl. John Patterson: The New World. A misunderstood masterpiece?, in: The Guardian, 10.12.2009, http://www.guardian.co.uk/film/2009/dec/10/the-new-world-terrence-malick: “when every other scrap of celluloid from 2000-2009 has crumbled to dust, one film will remain (…) and that film is The New World”.
[6] ebd.
[7] Matt Zoller Seitz: Just Beautiful, in: Slant Magazine, 25.01.2006, http://www.slantmagazine.com/house/2006/01/just-beautiful/.
[8] Doris Kuhn: Sexappeal, mal ernsthaft, in: Sueddeutsche.de, 17.05.2010, http://www.sueddeutsche.de/kultur/im-kino-the-new-world-sexappeal-mal-ernsthaft-1.436309.
[9] vgl. Adrian Martin: Approaching The New World, in: Hannah Patterson (Hrg.): The Cinema of Terrence Malick. Poetic Visions of America, New York/London ²2007, S. 212-221, hier S. 218: “no Malick film was received unanimously well at the moment of its initial release”.
[10] The New World erhielt bei Metacritic 69/100 Punkte und bei Rotten Tomatoes 61%, To the Wonder wiederum 58/100 bei Metacritic und 42% bei Rotten Tomatoes, vgl. http://www.metacritic.com/person/terrence-malick?filter-options=movies und http://www.rottentomatoes.com/celebrity/terrence_malick/ (Stand: 07.08.2013).
[11] James Morrison: Making Worlds, Making Pictures. Terrence Malick’s The New World, in: Hannah Patterson (Hrg.): The Cinema of Terrence Malick. Poetic Visions of America, New York/London ²2007, S. 199-211, hier S. 200.
[12] Anne Latto: Innocents Abroad. The Young Woman’s Voice in Badlands and Days of Heaven, with an Afterword on The New World, in: Hannah Patterson (Hrg.): The Cinema of Terrence Malick. Poetic Visions of America, New York/London ²2007, S. 88-102, hier S. 98.
[13] Unter anderem Latto kritisierte, dass Pocahontas’ Erzählstimme sich entgegen des von Malick angestrebten Authentizitätsanspruchs seines Films statt Algonquin der englischen Sprache bedient, ebd., S. 99: “we may question why her narration was not in her native tongue (…) this remains a problem”.
[14] vgl. hierzu Ron Mottram: All Things Shining. The Struggle for Wholeness, Redemption and Transcendence in the Films of Terrence Malick, in: Hannah Patterson (Hrg.): The Cinema of Terrence Malick. Poetic Visions of America, New York/London ²2007, S. 14-26, hier S. 15: “At the heart of all (..) films is an Edenic yearning to recapture a lost wholeness of being, and idyllic state of integration with the natural and good both within and without ourselves”.
[15] Ralph Waldo Emerson: Nature (1836), in: Ders.: Nature and Other Essays, Mineola 2009, S. 1-33, hier S. 11.
[16] vgl. hierzu Ralph Waldo Emerson: Nature (1844), in: Ders.: Nature and Other Essays, Mineola 2009, S. 35-47, hier S. 35: ”At the gates of the forest, the surprised man of the world is forced to leave his city estimates of great and small, wise and foolish (…) here is sanctity which shames our religions, and reality which discredits our heroes” sowie S. 36: “How easily we might walk onward into the opening landscape, absorbed by new pictures and by thoughts fast succeeding each other, until by degrees the recollection of home was crowded out of the mind, all memory obliterated by the tyranny of the present, and we were led in triumph by nature”.
[17] “How many lands behind me? How many seas?”, sinniert Smith eingangs. “The fortune never my friend.”
[18] Robert Silverman: Terrence Malick, Landscape and ‘What is this war in the heart of nature?’, in: Hannah Patterson (Hrg.): The Cinema of Terrence Malick. Poetic Visions of America, New York/London ²2007, S. 164-178, hier S. 176.
[19] Erneut kommt einem Emerson in den Kopf: “In the woods is perpetual youth (..) these plantations of God. (…) In the woods, we return to reason and faith. There I feel that nothing can befall me in life – no disgrace, no calamity (…) all mean egotism vanishes (…) I am nothing. I see all”, s. Emerson (1836), S. 3.
[20] siehe hierzu auch Cousins, S. 197: “Each time [Malick] goes away from our screens, he seems to unlearn what life has taught him and start again with new characters”.
[21] vgl. Morrison, S. 200: “Malick shows how the inexpressibly violent becomes intertwined with the provisionally ‘beautiful’”.
[22] Eine Erklärung bietet Emerson: “Cities give not the human senses room enough”, s. Emerson (1844), S. 36.
[23] vgl. hierzu auch Benjamin Strong: More Than Just a Pretty Picture. The subtle greatness of Terrence Malick’s The New World, in: Slate, 26.05.2006, http://www.slate.com/articles/arts/dvdextras/2006/05/more_than_just_a_pretty_picture.html: “The achievement of The New World is not to evoke a paradise lost, but to conjure the terrible beauty of the one we remain intent on destroying”.
[24] vgl. Kit und Holly in Badlands, Abby und Bill/der Farmer in Days of Heaven, Private Bell und seine Frau in The Thin Red Line, mit Abstrichen Mr. und Mrs. O’Brien in The Tree of Life sowie Neil und Marina/Jane in To the Wonder.
[25] vgl. Martin, S. 213: “What makes Malick’s characters so ghostly is the sense that they scarcely seem to belong inside the stories that carry them along”.
[26] Emerson (1844), S. 37.
[27] “Did you find your Indies, John?”, fragt ihn Pocahontas bei ihrem Wiedersehen. Smith erwidert daraufhin: “I may have sailed past them”.
[28] Morrison, S. 209.
[29] “While in previous films Malick’s nature imagery often appeared in dissociated interludes between narrative segments, here it is part of the narrative sequence”, schreibt Morrison (ebd., S. 202). Auch Roger Ebert bemerkt, Malick “places nature in the foreground, instead of using it as a picturesque backdrop as other stories might”, s. Roger Ebert: The New World, in: RogerEbert.com, 19.01.2006, http://www.rogerebert.com/reviews/the-new-world-2006.
[30] Morrison, S. 205.
[31] Brett McCracken: The New World, in: The Search, 14.05.2011, http://stillsearching.wordpress.com/2011/05/14/the-new-world/.
[32] ebd. Für Anne Latto zeigt Pocahontas mit ihrem Englandbesuch “she is able to enact whatever role is required of her, regardless of clothes or name” (Latto, S. 100).
[33] vgl. Mottram, S. 23: “The film itself can be seen as the song of the land that Pocahontas prays for”.
[34] vgl. Kuhn, Internet: „Man spürt seine Sehnsucht nach einem Paradies, seine Trauer über dessen Verlust“.
[35] Der Film sei „die Darstellung der Unschuld, und zwar am Nullpunkt der amerikanischen Zivilisation, wie wir sie kennen (…) Was Malick inszeniert ist eine tota allegoria der Unschuld der Welt an ihrem, oder jedenfalls: einem, über alles historisch Besondere eben aufs Grundsätzliche hinausweisenden Ursprung“, s. Ekkehard Knörer: Terrence Malick. The New World, in: Jump Cut, 2006, http://www.jump-cut.de/berlinale2006-thenewworld.html.
[36] Emerson (1836), S. 2.
[37] Busche, Internet.
[38] Emerson (1844), S. 39.
[39] Morrison, S. 203.
[40] vgl. Kuhn, Internet: „Man weiß also, was er liebt, was er kann, was er zeigen wird, wenn er eine der seltenen Gelegenheiten nutzt, wieder einen Film zu machen“. Siehe auch [20].
[41] Zoller Seitz, Internet.
[42] Patterson, Internet.
[43] Das heißt „in vollem Einklang mit Natur und Wirklichkeit stehend“, s. http://www.duden.de/rechtschreibung/naiv#Bedeutung2.
[44] Cousins, S. 192.

Szenenbilder The New World© Entertainment In Video.

É Cosa Una Vibration

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Kaum einem Regisseur gelang derart gekonnt der Blick auf die High Society wie Federico Fellini, kulminierend in seinem Meisterwerk La dolce vita. Darin schlawenzelt Marcello Mastroianni als Klatschreporter in Episoden durch Roms Hautevolee, hier und dort Affären mitnehmend und sich letztlich im Dschungel der Großstadt in sich selbst verlierend. Fellinis Landmann Paolo Sorrentino schickte sich dieses Jahr mit La grande bellezza an, eine Hommage an seinen italienischen Kollegen zu erschaffen, die nicht nur dank der musikalischen Untermalung von Zbigniew Preisner zudem an die jüngsten Filme von Terrence Malick erinnert. Und ein Film, der Fellini und Malick vereint, kann nur eine große Schönheit sein.

Hier spielt Toni Servillo den Kolumnisten und Schriftsteller Jep Gambardella, der zu Beginn des Films in einer Geburtstagsfeier, die beinahe Gatsby’sche Ausmaße erfährt, sein 65. Lebensjahr begeht. Innerhalb des Films wandert Jep von einer Party zur nächsten, wenn er nicht gerade seinen engsten Freundeskreis auf seiner Terrasse – mit Blick aufs Kolosseum – empfängt oder sich mit jüngeren Frauen verlustiert. Erschüttert wird Jeps “dolce vita” durch die Nachricht, dass Elisa, jene Frau, die ihn vor Jahrzehnten entjungfert hat, verstorben ist. Nun verstärkt über sein Leben, die Liebe und jene Nacht mit Elisa reflektierend, avanciert Jep selbst mehr und mehr zu einer dieser verlorenen Figuren im Nachtleben von Rom.


Dies wiederum geschieht in kleineren Episoden, die jedoch harmonischer als bei Fellinis Magnum Opus ineinanderfließen. Wieder und wieder kehrt die Handlung jedoch zu Jeps Clique zurück, eine illustre Gesellschaft vermeintlich Gescheiterter. So wie Romano (Carlo Verdone), der verzweifelt eine Schauspielerin zu beeindrucken versucht, indem er ein Theaterstück auf die Bühne bringt. Oder Stefania (Galatea Ranzi), eine Autorin, die inzwischen für Dokutainment-Programme schreibt und die Erziehung ihrer Kinder ihren Angestellten überlässt. Jep selbst, der vor langer Zeit einen Roman schrieb, auf den jedoch nie ein Nachfolger folgte, nimmt sich aus dieser Gruppe Gescheiterter nicht aus.

“We are all on the brink of despair”, klärt er Stefania bei einem demaskierend ehrlichen Terrassen-Gespräch auf. Jep selbst blickt hinter den Mummenschanz der Hautevolee – übt ihn jedoch zugleich genüsslich aus. Beispielsweise als später eine Figur stirbt und Jep ihre Beerdigung zur eigenen sozialen Selbstdarstellung missbraucht – was scheinbar selbst an ihm daraufhin nicht spurlos vorbeigeht. In dieser Gesellschaft der High Society sticht die Stärke von La grande bellezza zumeist heraus. So auch als Jep eine Performance-Künstlerin interviewt, die von Vibrationen spricht, diese jedoch nicht erklären kann. Eine aufgesetzte Intellektualität, die Jep auch in seinem Freundeskreis genüsslich dekonstruiert.


Aber wer ernst genommen werden will, muss sich selbst ernst nehmen – so sagt es Jep jedenfalls Romano. Für den Kolumnisten allerdings keine Option und das obschon er von sich sagt, er sei “destined for sensibility”. Einfühlsamkeit und Absurdität liegen bei Sorrentino hier jedoch nah beieinander. “The best people in Rome are the tourists”, ätzt Jep in einer Szene abschätzig. Wie passend, dass der Film mit einer solchen Gruppe japanischer Besucher begann, von denen einer dann urplötzlich tot zusammenbricht. Überwältigt von Roms verkapitalisierter Kultur? Umso passender der kurz darauf folgende Schwenk zu Jeps exaltierter Geburtstagsfeier, die uns erstmals einige der Protagonisten präsentiert.

Diese fühlen sich nicht von ungefähr wie vergessene Charaktere der Fellini-Ära an. “The old is better than the new”, heißt es an einer Stelle trefflich. Sie alle sehnen sich nach einer verblichenen Zeit zurück, perfekt eingefangen in einem Episodenabschluss gegen Ende, wenn der Graf und die Gräfin Colonna inzwischen ärmlich unter ihrer alter Wohnung hausen, die zum Museum über ihre Familie umfunktioniert wurde. Das Ehepaar Colonna hält sich nunmehr mit gelegentlichen Auftritten bei Dinner-Partys über Wasser – notfalls auch als Familienmitglieder eines Clans ausgebend, mit dem man Jahrhunderte lang verfeindet war. Sie haben wie auch die anderen Figuren den Wandel der Zeit nicht überstanden.


Mal mehr, mal weniger deutlich zitiert Sorrentino dabei Fellini. Zum Beispiel wenn Jep einen abendlichen Spaziergang mit seiner neuen Bekanntschaft Orietta (Isabella Ferrari) macht und dabei an einen Dialog zwischen Marcello Mastroianni und Anouk Aimée aus La dolce vita erinnert. Welcher Arbeit sie nachgehe, will der Schriftsteller wissen. “Me? I’m rich”, entgegnet Orietta. “Great job”, erwidert Jep. Ähnlich zitatenreich gerät ein späterer Ausflug während einer Party mit der Stripperin Ramona (Sabrina Ferilli) in verschiedene Kunstgemächer der Stadt, inklusive einem Zwischenstopp bei einem Kartenspiel dreier Prinzessinnen. Oder die finale Ankunft einer 104-jährigen Ordensschwester à la Mutter Theresa.

Der Humor schwingt dabei subtil zwischen den Zeilen mit, darunter wenn ein junges Mädchen, allem Anschein nach ein Kunstprotegé, auf einer Party von seinen Eltern genötigt wird, live ein Kunstwerk zu erschaffen. Sind die Figuren und die Handlung hierbei Fellini entlehnt, erinnert Preisners Musik, aber auch die Kameraarbeit von Luca Bigazzi an Terrence Malick. Die visuelle Begleitung einer Nonne, die im Garten mit Kindern spielt und direkt von Jep auf seiner Terrasse überblickt wird, erhält so ihre ganz eigene Magie. Audiovisuell ist La grande bellezza somit nicht weniger ein Genuss als narrativ, selbst wenn sich in der zweiten Hälfte bei fast zweieinhalb Stunden Laufzeit leichte Längen zeigen.


Immer wieder dringt dabei die Erinnerung an Elisa (Anna Luisa Capasa) herbei, die laut ihrem Mann in ihren Tagebüchern stets nur von Jep sprach – und das, obwohl beide damals lediglich eine Affäre miteinander hatten. Vielmehr stellt Elisa als personifizierte “grande bellezza” ein Fenster in die Vergangenheit dar, in jene verblichene Zeit, der die Figuren – darunter auch Jep – nachtrauern. Exemplarisch fängt Sorrentino dies auch in einer Szene ein, als Jeps Chefredakteurin Dadina (Giovanna Vignola) ihn als ‘Geppino’ anspricht, was diesen fast zu Tränen rührt. Umso beeindruckender ist da natürlich Ordensschwester Maria (Sonia Gessner), die mit ihren 104 Lebensjahren jedem Wandel der Zeit zu trotzen scheint.

“Things are too complicated to be understood by one individual”, heißt es an einer Stelle. Auch Jep scheint dies im Verlauf des Films zu realisieren, wenn unter anderem Giraffen vor seinen Augen verschwinden und sich sein Nachbar als jemand ganz anderes entpuppt als von dem Kolumnisten geahnt. Federico Fellini sagte einst: “It’s not what we say but how we say it that matters”. Mit La grande bellezza gelang seinem Landsmann und Kollegen Paolo Sorrentino nicht nur eine “omaggio bellissima” zum Œuvre Fellinis, sondern zugleich eine “omaggio alla bellissima”. Und so ist sein Film vielleicht der kunstvollste des Jahres, auf jeden Fall jedoch einer seiner besten und unterhaltsamsten. Einfach eine große Schönheit.


Szenenbilder “La grande bellezza”© DCM Film Distribution. All rights reserved.

Der dreifache Tod des Feiv’ke Schwarz

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„Ich glaube, dass für jeden Juden – noch viel mehr für die Generation, die den Holocaust mitgemacht hat – die Begegnung mit Deutschland immer eine besondere Begegnung ist“, sagte Regisseur Dror Zahavi in einem Interview mit dem Ersten zu seiner Adaption von Marcel Reich-Ranickis Biografie. „Als würde man dem Geist – diesem Dämon – ins Gesicht gucken und versuchen herauszufinden, wie so etwas passieren konnte.“ Die Rückkehr ins Land der Täter ist verständlicherweise wohl nur für wenige Shoa-Überlebende oder deren Nachfahren erträglich. Zu groß ist der Schmerz, den der Verlust von geschätzt 5,6 Millionen Opfern hinterlassen hat. Auch für die Familie der Israelin Yael Reuveny.

Reuveny gehört zur so genannten dritten Generation, ihre Großmutter Michla Schwarz war eine Überlebende des Konzentrationsaußenlagers im brandenburgischen Schlieben. Ursprünglich aus Litauens Hauptstadt Vilnius stammend, verlor sie ihre Familie im Zweiten Weltkrieg, darunter auch ihren Bruder Feiv’ke. Und dies, hier liegt die Tragik, gleich zwei Mal. Zuerst im Glauben, er sei während des Kriegs als Soldat gefallen, dann, nach dem Krieg, als sie in Lodz von Feiv’kes Überleben erfuhr, nur um ihn vermeintlich in einem Hausbrand erneut zu verlieren. Zuvor wollten sich die Geschwister am Bahnhof von Lodz treffen, doch Feiv’ke erschien nicht. Und Michla Schwarz glaubte ihn tot.


„Wenn Feiv’ke am Leben wäre, würde er zu uns kommen“, habe die Schwester immer gesagt, verrät eine Freundin Yael Reuveny. Die junge Israelin hat sich die Geschichte ihrer Familie zum Thema für ihre Dokumentation Schnee von gestern genommen, in der sie ergründen will, warum der Bruder ihrer Großmutter seiner Zeit nicht am Bahnhof von Lodz erschien. Wie sich herausstellt, starb Feiv’ke Schwarz nicht bei einem Hausbrand, sondern erst viele Jahrzehnte später. Ironischerweise an jenem Ort, dem seine Schwester einst entfloh: Schlieben. In Schlieben „fängt die Geschichte meiner Familie an zu bröckeln“, stellt Yael Reuveny fest. Was trieb Feiv’ke dazu, im Täterland und -ort zu bleiben?

Auf dem Friedhof von Schlieben findet Reuveny das Grab ihres Großonkels unter dem Namen „Peter Schwarz“. Eine ehemalige Angestellte spricht gut über „Herr Schwarz“, echte Auskunft könne aber jemand anderes geben: Tante Helga. Deren Mann Otto war der Schwager von Peter/Feiv’ke, der nach dem Krieg eine deutsche Nichtjüdin geheiratet hatte. Und in jenem Ort lebte, wo er einst im KZ saß – dessen ehemalige Baracken inzwischen, in einem Anfall von Zynismus, zu einer Hausreihe von Deutschen umfunktioniert wurde. Im Ort wussten die meisten Einwohner, zumindest die Familie und Freunde, dass Peter Schwarz Jude und ehemaliger Insasse des Konzentrationslagers war. Nicht von ungefähr.


Schließlich hatten viele Schliebener im KZ oder der Munitionsfabrik HASAG gearbeitet. Was die Entscheidung von Schwarz, hierhin zurückzukehren, nicht nur für die Regisseurin umso unverständlicher macht. Über seine Zeit im KZ habe Peter nie geredet. „Das Thema war tabu“, sagt Tante Helga. Und mit dem Thema auch die Familie. In der israelischen Heimat, die Yael Reuveny immer wieder für Interviewpassagen mit ihrer Mutter Esther aufsucht, stellt sich wiederum heraus, dass bereits Mitte der 1990er Jahre ein Anruf aus der DDR einging. Am Apparat war ein vermeintlicher Cousin, ein selbsterklärter Sohn von Peter Schwarz. Man ließ die Sache auf sich beruhen – bis die Regisseurin dem Ganzen nachging.

Yael Reuveny lebt selbst in Deutschland. In Berlin, nahe dem Alexanderplatz. Was sowohl bei ihrer Mutter wie auch ihrem Vater für Unverständnis sorgt. Wie kann sie, als Jüdin, im Land der Täter leben? Und es auch noch als ihr Zuhause bezeichnen? Für die 33-Jährige war die Reise nach Deutschland eine in die Vergangenheit. Eine Reise in eine offene Wunde, die nie verheilt, höchstens unzureichend vernarbt. Was die junge Frau nach Deutschland trieb, ist in Schnee von gestern weniger von Belang wie was ihren Großonkel zurück hierher trieb. Und auch als sie Uwe, ihren Onkel zweiten Grades, sowie dessen Schwester Barbara trifft, findet sie auf diese Frage keine wirklich zufriedenstellende Antwort.

Viel eindringlicher als die Frage ob der Rückkehr nach Deutschland beschäftigt die Familie Reuveny jedoch die nach Feiv’kes versagter Suche nach Michla. Glaubte er die Schwester tot? Wollte er sie nicht wiedersehen, weil sie ihn an all das erinnerte, was ihm der Krieg genommen hatte? Oder wusste er, dass die Schwester ihm nicht verzeihen würde, dass er nach Schlieben zurückkehrte und eine deutsche Nichtjüdin heiratete? Fragen, die auch Uwe und Barbara nicht beantworten können, die zwar seit Kindesbeinen an um die KZ-Vergangenheit des Vaters wussten, jedoch das frühere Leben ihres Vaters nie in Frage stellten. Es war Uwe, der 1995, acht Jahre nach dem Tod des Vaters, den Kontakt nach Israel aufnahm.

Vergeblich, wie sich herausstellte. Michla, die selbst 2001 verstarb, wollte von der vermeintlichen deutschen Verwandtschaft nichts wissen. Erst nach ihrem Ableben begangen Yael und Esther Nachforschungen, welche die Enkelin vier Jahre später nach Deutschland führten. „In jeder Familie kennt man das Schweigen der ersten Generation, die über das Erlebte nicht reden kann, und die Sprachlosigkeit der zweiten, die nicht fragen durfte“, schrieb Kerstin Krupp in der Berliner Zeitung im Zuge von Reuvenys Film. „Erst die Enkel sind in der Lage, einen neuen Blick zu wagen.“ Und so wie Yael Reuveny ein Verhältnis zu Deutschland sucht, zieht es ihren Cousin zweiten Grades, Barbaras Sohn Stephan, wiederum zu Israel.


Die Geschichte der Großeltern hat bei beiden Spuren hinterlassen und jeder sucht im Land des anderen nach Antworten. Mit Schnee von gestern ist Yael Reuveny dabei nicht nur ein sehr persönliches Porträt über eine familiäre Spurensuche gelungen, sondern auch ein oftmals bewegender Film über die deutsch-israelische Beziehung. Darüber, welche Wellen die Shoa auch heute noch schlägt und wie sie ihre Spuren selbst in der dritten Generation hinterlassen hat. Zugleich zeigt die Dokumentation, dass dies nicht bei jedem Israeli gleich sein muss. So ist Yaels Bruder Oded im Grunde überhaupt nicht an der Geschichte seines Großonkels interessiert, obschon ihn die Faszination der Schwester für diese verwundert.

Am Ende lieferten ihre Nachforschungen für ihre Dokumentation Yael Reuveny zwar weder eine Antwort darauf, wieso es 1945 in Lodz nicht zum Bahnhofstreffen zwischen ihrem Großonkel und ihrer Großmutter gekommen ist, noch darauf, warum dieser nach Schlieben zurückkehrte und nie den Kontakt aus der Diaspora nach Israel suchte. Dennoch scheinen sie und ihre Mutter mehr im Reinen – mit sich selbst und ihrer Vergangenheit. Für Juden und Israelis wird Deutschland sicher immer ein sehr spezielles Land sein, aber Yael, Stephan und die jungen 17.000 Israelis, die derzeit in Berlin leben, versprechen Hoffnung, dass mit der dritten Generation und folgenden die Beziehung beider Kulturen sich weiter verbessert.


Szenenbilder „Schnee von gestern“© Film Kino Text. Alle Rechte vorbehalten.

These babys will be angels

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Nicht viele soziale Themen spalten die Gesellschaft so sehr wie die Frage nach der Legalität von Abtreibungen. “Everybody is right when it comes to the issue of abortion“, sagte der Jurist Alan Dershowitz in Tony Kayes Dokumentation Lake of Fire. In den USA ist um das Thema ein regelrechter Kleinkrieg entbrannt, in dem Ärzte, die Abtreibungen vornehmen, immer wieder von Anti-Abtreibungs-Fanatikern ermordet werden. So wie George Tiller im Jahr 2009, nachdem bereits in der Vergangenheit Anschläge auf sein Leben verübt worden waren. Die Folgen dieser Tat schlagen Wellen bis in die Gegenwart, wie Martha Shanes und Lana Wilsons Dokumentation After Tiller zeigt. In ihr befassen sich die Regisseurinnen weniger mit der Debatte, pro oder contra Abtreibungen, sondern mit Tillers Erbe.

War dieser doch bis zu seinem Tod einer der wenigen Ärzte, die Spätabtreibungen durchführten. Hierbei handelt es sich um eine Abtreibung im dritten Trimester der Schwangerschaft, also jenseits der sechs Monate. Nur ein Prozent aller Abtreibungen geschieht im dritten Trimester und hängt meist damit zusammen, dass die Föten einen genetischen Defekt oder eine Behinderung aufweisen. Über derartige Umstände berichten auch die Eltern, die in After Tiller die verbliebenen vier Ärzte aufsuchen, die in den USA noch Spätabtreibungen durchführen. So wie die Eltern eines Fötus’, bei dem in der 30. Schwangerschaftswoche plötzlich Arthrogryposis multiplex congenita (AMC), also eine angeborene Gelenksteife, diagnostiziert wurde. Und dies bei seinen Erzeugern einen Denkprozess anregte.


“Rather not put her through all that”, beschließt der Vater das Sterben seiner Tochter. Und seine Frau, die wie ihr Mann aktiv Sport betreibt, fragt sich: “Would we want to have lived our lives like that?” Schließlich kann die Tochter mit ihrer Gelenksteife später selbst keinen Sport treiben. Und was ist ein Leben ohne Sport wirklich wert? Vor einem ähnlichen Dilemma stehen zwei andere Eltern, als man ihnen sagt, ihr Kind leide an einer Corpus-callosum-Agenesie. Die Verbindung zwischen beiden Gehirnhälften fehlt somit – für das Kind das Todesurteil. Die Ärztin Shelley Sella hat Verständnis. “It’s not just about being alive”, sagt sie. “It’s about life and what does it mean?” Ein Leben mit Behinderung wird als kein echtes Leben wahrgenommen. Dunkel fühlt man sich an den Fall „Kind K.“ erinnert.

In einem anderen Fall bittet ein Vergewaltigungsopfer im sechsten Monat um eine Abtreibung, ohne derartige triftige Gründe werden Spätabtreibungen nicht vorgenommen. Auch, weil es neben Shelley Sella mit LeRoy Carhart, Susan Robinson und Warren Hern nur vier Ärzte im Land gibt, die diese durchführen. “At times I struggle and at times I don’t”, erzählt uns Sella. “But I always come back to the woman and what she’s going through.” Die Dokumentation widmet jedem der vier Ärzte scheibchenweise ihre Aufmerksamkeit, versucht die Motive für deren Bereitschaft zur Spätabtreibung hervorzuheben und die Persönlichkeit der vier zu beleuchten. So hatte LeRoy Carhart einst eine Pferdefarm, ehe sie von Abtreibungsgegnern im Jahr 1991 abgebrannt wurde und dabei 21 Pferde starben.


Auch das Privatleben von Warren Hern litt unter den ständigen Bedrohungen. “When I walk out the door of my office I expect to be assassinated”, gesteht er. Dabei ist ihm all das Aufheben um das Thema Abtreibung ein Rätsel. Hern wundert sich eher darüber, warum Leute Marihuana rauchen. “See what it does to your brain”, appelliert der Arzt. Keiner von den Vier macht seine Arbeit, weil sie ihm Spaß bereitet. Sondern weil sie den Menschen, die sie wegen dieser Arbeit aufsuchen, helfen wollen. Die zur Schau gestellte Beziehung zwischen Patientin und Arzt bringt in After Tiller so manche schräge Szene mit sich. Beispielsweise wenn eine Frau sich mit Umarmungen für die Fürsorge bedankt und über ihren Abtreibungsablauf anschließend sagt “it was such a precious experience”.

Man muss auch das Gute sehen – oder sich zumindest einreden. “Obviously these babies, they will be angels”, sagt eine Mutter. Und als Zuschauer versucht man sich vorzustellen, was für Aufgaben auf einen sieben Monate alten Fötus mit Flügeln im Himmel warten könnten. Der Tod des eigenen Kindes muss eben akzeptiert werden – wenn man schon das Kind selbst mit seiner Behinderung nicht akzeptieren kann. “I would if I could but I really can’t”, stammelt eine Mutter und die Ärzte fragen sich, was den Menschen wirklich helfe. Ihr Leben der Erziehung eines Kindes zu widmen, das kein „normales“ Leben führen kann? Oder sich selbst und dem Kind derartige Leiden oder Beschwerlichkeiten durch ein frühzeitiges Beenden zu ersparen. “It sounds barbaric, doesn’t it?”, ist sich Sella bewusst.


Die Dokumentation liefert auf die Frage keine direkte Antwort. Wie könnte sie auch. Selbst als Zuschauer fällt es einem schwer, sich klar zu positionieren. In den USA, wo sich die Befürworter und Gegner von Abtreibungen in etwa die Waage halten, unterstützen wiederum nur zehn Prozent die Legalität von Spätabtreibungen. Diese sind auch nur in neun Bundesstaaten erlaubt, wobei selbst in diesen kaum eine Gemeinde, wie der Film zeigt, eine derartige Klinik beheimaten möchte. “Reality is complicated”, sagen Martha Shane and Lana Wilson selbst. Menschen, die mit angeborener Gelenksteife leben, sind womöglich mit ihrem Leben, trotz der Einschränkungen, die ihre Behinderung mit sich bringt, dennoch ganz zufrieden. Und froh, dass ihre Eltern sie nicht einst abtrieben.

Nun ist Arthrogryposis sicher etwas anderes als Corpus-callosum-Agenesie, grundsätzlich stellt sich aber die Frage, wie viel Behinderung eine Spätabtreibung rechtfertigt. Ein Leben mit Down-Syndrom und anderen Einschränkungen dürfte für viele immer noch lebenswerter sein, als gar kein Leben. Dennoch entschlossen sich laut Statistischem Bundesamt im vergangenen Jahr 562 Frauen in Deutschland für eine Abtreibung nach der 22. Schwangerschaftswoche. Immerhin müssen die Ärzte hier bei uns nicht um ihr Leben fürchten, wenn sie diese Arbeit verrichten. Im Gegensatz zu ihren vier Kollegen aus After Tiller. Trotz ihres schon gehobenen Alters denken Susan Robinson und die anderen drei gar nicht an den Ruhestand. “I can’t retire”, sagt Robinson. “There aren’t enough of us.”


Szenenbilder “After Tiller”© ro*co. All Rights Reserved.

Raping. But With Love!

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Es war Robert F. Kennedy, der einst sagte: Nur diejenigen, die es wagen, groß zu scheitern, können auch Großes erreichen. Für manchen mag dies zum Mantra werden. So versucht Terry Gilliam seit rund anderthalb Jahrzehnten, seinen The Man Who Killed Don Quixote zu verfilmen. Stanley Kubrick gab sein Napoleon Bonaparte-Biopic derweil nach langer Vorarbeit Ende der 1960er Jahre entnervt auf. Auch Alejandro Jodorowsky dürfte Kennedys Zitat ein Schmunzeln abringen. Immerhin investierte der Chilene über zwei Jahre seines Lebens in eine Adaption von Frank Herberts Dune. Was für die einen die Verfilmung eines Kultromans war, avancierte für Avantgarde-Regisseur Alejandro Jodorowsky zu weit mehr als das.

“What I wanted was to create a prophet“, erläutert der Chilene in Jodorowsky’s Dune– Frank Pavichs dokumentarischer Aufarbeitung seines gescheiterten Projekts. “To change the young minds of all the world. For me, Dune will be the coming of a god“, schwärmt Jodorowsky. Das Medium Film war für ihn weit mehr als nur Kunst, es war “the search for the human soul“. In gewisser Weise also nur Mittel zum Zweck und so auch Frank Herberts Sci-Fi-Bibel von 1965. Jodorowsky hatte das Buch nicht einmal gelesen, ein Freund hatte es ihm lediglich empfohlen. Und dennoch erklärte der Regisseur seinem Produzenten Michel Seydoux Dune als sein nächstes Projekt, nachdem zuvor The Holy Mountain zum Hit wurde.


Ziel war, dem Publikum einen Film zu bieten, der wie ein Halluzinogen wirkte, nur dass man kein LSD schlucken musste. “We will change the world!“, lautete Jodorowskys Überzeugung, mit der er zwei Jahre lang täglich seine Mitarbeiter indoktrinierte. Eine durchaus illustre Gesellschaft, voll von Menschen, deren Egos sich vor dem eines Jodorowsky nicht zwingend zu verstecken brauchten: den französischen Künstler Jean ‚Moebius‘ Giraud, den britischen Zeichner Chris Foss, H.R. Giger und für die Spezialeffekte Dan O’Bannon. Letzterer war zweite Wahl, nachdem es mit Szene-Größe Douglas Trumbull nichts wurde. “He is not my spiritual warrior“, erklärte seinerzeit Jodorowsky gegenüber Michel Seydoux.

Gleichgesinnte fand der Chilene wiederum in Giraud und den anderen. Viele davon traf er eher zufällig, so Jodorowsky. “By chance“– aber so, wie er es erzählt, klingt es vielmehr nach Schicksal. Zufällig sei man im selben Hotel gewesen wie Salvador Dalí, der eine Nebenrolle übernehmen sollte. Zufällig war er in Paris auf derselben Party, die auch Mick Jagger besuchte, den Jodorowsky für die Rolle von Feyd-Rautha wollte. Während Jagger, Udo Kier (Piter deVries) oder Keith Carradine (Leto Atreidis) bereitwillig involviert sein wollten, mussten Dalí – mit einer Gage von $100.000 pro Filmminutenpräsenz – und der als Baron Harkonnen vorgesehene Orson Welles – mit täglicher Sterneküche – umgarnt werden.


Und während die Progressive-Rock-Band Magma, die für die Musik der Harkonnen-Szenen sorgen sollte, leicht zu überzeugen war, musste Jodorowsky auch bei Pink Flyod für die Atreides-Szenen Überzeugungsarbeit leisten. Als diese in Abbey Road ihr The Dark Side of the Moon aufnahmen und gerade zu Mittag aßen, fuhr sie der Regisseur an, wie sie denn Big Macs essen könnten, wenn er ihnen gerade im Begriff sei “the most important picture in the history of humanity“ anzubieten. Eine Ansage, die Wirkung zeigte. Derlei Anekdoten, zu denen auch Keith Carradines Vorliebe für Vitamin E-Tabletten zählt, kennt man von Jodorowsky bereits aus den Audiokommentaren seiner bisherigen Filme.

Unterdessen entstand in Paris bereits Jodorowskys Dune– zumindest auf dem Papier. Giraud fertigte für das Storyboard 3.000 Zeichnungen an. “Drawing by drawing I shoot the picture“, reflektiert der Regisseur. “I use Moebius like a camera.“ Gleichzeitig lieferten Foss und Giger Zeichnungen, der Brite für die Raumschiffe, der Schweizer für die Gebäude. Eine organische Entwicklung, deren Spitze die Besetzung von Paul Atreides mit Jodorowskys eigenem, 12 Jahre alten Sohn Brontis war. Der unterzog sich zwei Jahre lang täglich einem rigiden Kampfsporttraining. Sollte weniger den Helden spielen, als zum Helden werden. Dune befand sich in der Vorproduktion, nur fehlte es an einem Budget.


15 Millionen Dollar veranschlagten Michel Seydoux und Alejandro Jodorowsky 1973 für ihre Adaption. Inflationsbereinigt wären das heutzutage rund 80 Millionen Dollar. Das Ganze für einen Film, für dessen Laufzeit sich sein Regisseur nicht auf 90 Minuten beschränken wollte. “Why the time?“, nörgelt Jodorowsky. Ihm war eher eine zwölfstündige Fassung vorgeschwebt. “It was build up to be the greatest achievement in science fiction“, resümiert Regisseur Nicolas Winding Refn. Ihm hatte Jodorowsky eines Nachts das Storyboard für Dune gezeigt und auditiv untermalt. Doch in Hollywood biss vor 40 Jahren niemand an. “Everything was great“, beschreibt Seydoux die Studio-Reaktion. “Except the director.“

Für den Visionär ein Schlag ins Gesicht. Jahre seines Lebens hatte er in das Projekt gesteckt – etwas, das Ridley Scott anschließend geflissentlich vermied. Einen Traum hatte Jodorowsky und der drohte zu scheitern. Inzwischen ging es nicht mehr darum, Frank Herberts Dune zu drehen, sondern das des chilenischen Regisseurs. “It was my Dune, sagt Jodorowsky hinsichtlich einiger inhaltlicher Freiheiten und Veränderungen, die er vorgenommen hatte. “When you make a picture you must not respect the novel“, lautet seine These. “I was raping Frank Herbert, raping, like this“, beschreibt der Regisseur schelmisch. “But with love, with love,“ Für den Romanautor, so heißt es, gingen die Änderungen in Ordnung.


Wie Jodorowskys Dune ausgesehen hätte, kann man auch nach Jodorowsky’s Dune nur erahnen. Ein visuell opulentes Werk wäre es gewesen, vielleicht bahnbrechend. Die Zeichnungen von Foss und Giger sowie das Storyboard von Giraud wirken vielversprechend. Anschließend sollten Giger und O’Bannon mit einigen ihrer Entwürfe zu Alien wandern, der Schweizer gar einen Oscar gewinnen. Auch weitere Elemente, so Frank Pavichs These, fanden ihren Weg in andere Produktionen wie Star Wars oder Raiders of the Lost Ark. Das Fazit der Dokumentation lautet somit: Alejandro Jodorowsky war seiner Zeit voraus. Ein Bild, dessen sich der eigenwillige Regisseur wohl bewusst zu sein scheint.

Seine schrullig-kauzige, enthusiastisch-begeisterte Art ist an sich das Highlight von Frank Pavichs Film. Nie um eine absurd-vergnügliche Anekdote verlegen, ist Alejandro Jodorowsky ein Erzähler und Märchenonkel par excellence. Und angesichts der Skizzen, Bilder und Ideen seiner “spiritual warriors“ ist es durchaus schade, dass seine Version von Dune nicht das Licht der Welt erblickt hat. Es wäre sicher – so oder so – ein Film geworden, der seinesgleichen gesucht hätte. In gewisser Weise ist er nun, in dieser Form, doch irgendwie zum Leben erwacht. Und letztlich, auch durch die Filme, die er mit seiner Vorarbeit beeinflusst hat, vermochte Jodorowskys Dune in seinem Scheitern dennoch Großes zu erreichen.


Szenenbilder “Jodorowsky’s Dune“© Sony Pictures. All Rights Reserved.

Worth investing the time

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Es ist vermutlich der Albtraum aller Eltern: Dass das eigene Kind nach der Geburt im Krankenhaus vertauscht wird. Zwar handeln es sich um seltene Fälle, für die Betroffenen ist dies aber nicht minder schockierend. Vor sechs Jahren wurden in Saarlouis zwei Neugeborene vertauscht, die nach einem halben Jahr wieder bei ihren leiblichen Eltern landeten [1]. Im französischen Cannes ereignete sich 1994 eine Verwechslung, die erst nach Jahren bemerkt und letztlich nicht korrigiert wurde [2]. Ein emotionales Thema, das sich auch Regisseur Kore-eda Hirokazu für seinen jüngsten Film Soshite chichi ni naru– im Ausland als Like Father, Like Son vertrieben – zu eigen machte. Und das diesen im Alleingang zu Tragen weiß.

Im Film erhält das Ehepaar Nonomiya einen Anruf des Krankenhauses, in welchem ihr Sohn Keita (Ninomiya Keita) vor sechs Jahren zur Welt kam. Es stellt sich heraus, dass es seinerzeit zu einer Verwechslung des Neugeborenen kam. Folglich ist der Junge, den Ryota (Fukuyama Masaharu) und Midori (Ono Machiko) als ihren Sohn aufziehen, nicht ihr leiblicher Nachwuchs. Der wächst derweil unter dem Namen Ryusei (Hwang Shôgen) auf, in der Familie von Saiki Yudai (Furankî Rirî) und seiner Gattin Yukari (Maki Yôko). Beide Familien einigen sich auf eine Kontaktpflege, während sie bis zum Schulbeginn in sechs Monaten entscheiden müssen, welchen Jungen sie weiter als ihren Sohn aufziehen wollen.


Ein sofortiger (Rück-)Tausch scheint ausgeschlossen. “No one could switch a pet either”, vergleicht Yudai. Er und seine Frau sehen die Situation etwas entspannter als die Nonomiyas. Zuvorderst freuen sie sich über das vom Krankenhaus zu leistende Schmerzensgeld, ist es um die Familie des Ladenhändlers Saiki finanziell doch weniger gut bestellt als um die konservativen Nonomiyas. Vielleicht auch deswegen setzt Ryotas Chef ihm Flausen in den Kopf: “Why don’t you raise them both?” Den Jungen, der Jahre lang sein Sohn war, genauso wie das eigen Fleisch und Blut. Was insofern verwundert, da Ryota eine ziemlich herzlose Figur ist, die weder für Keita noch seine Frau oder die übrige Familie Gefühle zu hegen scheint.

Eine gewisse Ironie findet sich dahingehend, dass Ryota und sein Bruder nicht von ihrer leiblichen Mutter, sondern von der zweiten Frau ihres Vaters aufgezogen wurden. Der kühle Familienvater weiß also aus erster Hand, wie es ist, keine biologische Bindung zu einem seiner Erzeuger zu haben. Und dennoch stellt er Gene vor Gefühle, offenbart Midori bereits früh in Hinsicht auf Ryusei und die Saikis: “We may have to fight them.” Für ihn erklärt sich nun, warum Keita nicht gut genug Piano spielt – dabei bemüht sich der Junge doch sonst, nach seinem Vater zu geraten. Aufgaben von diesem werden spielerisch als „Missionen“ angesehen. Und sollen den Jungen dabei früh zur Selbstständigkeit erziehen.


Yudai wiederum ist eine völlig andere Vater-Figur. Wo Ryota meist spät Abends von der Arbeit nach Hause kommt und nicht einmal sonntags Zeit für Keita hat, sucht Yudai den spielerischen Kontakt zu seinem Nachwuchs. Wo im Hause Nonomiya alleine gebadet wird, ist das Baden bei den Saikis – sicher auch finanziell bedingt – ein Familienevent. “It’s worth investing the time”, klärt Yudai sein Gegenüber auf, als dieser sich zu schade ist, mit seinem Kind herumzutollen. Wie unterschiedlich die Männer sind, macht Kore-eda auch in ihren Lebensmotten deutlich. “Take one day off and it takes three days to catch up”, sagt Ryota da. “Put off to tomorrow whatever you can”, heißt es unterdessen aus Yudais Mund.

Letzterer bietet somit das familiärere Umfeld. Schreibt den Kindern nicht vor, wie sie mit ihren Stäbchen zu essen haben, repariert ihr Spielzeug, wo das reichere Pendant vermutlich einfach Neues kaufen würde. Als die Familien übers Wochenende die Jungen austauschen, nimmt sich Ryota für Ryusei genauso viel Zeit wie für Keita – nämlich keine. Gattin Midori macht es wenig besser, sodass der Junge zwischen der Badewanne und seinen Videospielen hin und her wandert. Als Zuschauer fragt man sich, wozu der adrett gekleidete Geschäftsmann beide Jungen aufziehen will, wo er doch an keinem von ihnen wirkliches Interesse zeigt. Erst spät erfährt Ryota doch noch eine Sinneswandlung – vielleicht fast zu spät.


Denn auch wenn das Thema der vertauschten Kinder Soshite chichi ni naru trägt, bleibt der Film zugleich an diesem hängen. Die Figuren sind Mittel zum Zweck für die Dramatisierung, einen rechten Zugang zu ihnen vermag Kore-eda nicht zu entwickeln. Warum ist Ryota so kalt? Zu Keita, Midori, seiner Stiefmutter? Wieso vermag Midori genauso wenig eine Beziehung zu Ryusei aufzubauen? Und was, außer repariertes Spielzeug und Spielgefährten, spricht Keita sonst bei den Saikis an? Wie Yudai und Yukari über den Konflikt mit den Kindern denken, verfolgt der Film auch nicht weiter – sehr wohl dafür aber ihre Vorfreude auf die finanzielle Entschädigung. Was die vermeintlich „besseren“ Eltern geldgierig wirken lässt.

Mit der Frage, ob das Eltern-Kind-Verhältnis mit der Zeugung oder erst nach der Geburt beginnt, setzt sich Kore-edas Film somit nicht wirklich auseinander. Sicherlich fällt es Eltern leichter, vertauschte Kinder im Alter weniger Monate, vielleicht sogar bis zu einem Jahr, eher wieder auszutauschen als wenn diese bereits fünf, sechs Jahre aufgezogen wurden. 100 Prozent der Eltern, sagen die Krankenhausleiter im Film, würden ihre leiblichen Kinder wiederhaben wollen. Wobei wohl anzunehmen ist, dass dies in frühen Stadien der Verwechslung der Fall ist. Je älter die Kinder sind, desto unwahrscheinlicher scheint, dass sie aus ihren gewohnten Umfeld entrissen werden, wie auch ein Fall aus Virginia zeigt [3].


Insofern fehlt Soshite chichi ni naru trotz der starken Prämisse in gewisser Weise das Persönliche, um über die Frage der richtigen Handlungsweise hinaus mit den Figuren des Films mitzuleiden. Aber nicht nur mit den Charakteren hätte sich Kore-eda intensiver auseinander setzen müssen, auch an seinem Thema kratzt er schlussendlich nur oberflächlich. Wie genau sich die Elternschaft der vier Figuren definiert beziehungsweise sie selbst diese definieren – abgesehen von Ryotas Identifikation primär über das Gen-Material – wird nicht näher erläutert. Für die Nonomiyas wie auch für die Saikis ändert sich an sich wenig. Bei den einen wird Ryusei wie Keita sich überlassen, bei den anderen ist das Kind eines von vielen.

Dem ungeachtet vermag der Film natürlich speziell nach hinten raus zu berühren. Dies mag sich auch durch Ryotas einsetzende Katharsis erklären. So faszinierend die Fragestellung gerät, hätte Soshite chichi ni naru jedoch weitaus packender und mitreißender geraten können, wenn Koreeda-san mehr in die Tiefe gegangen wäre. Sei es bei den Figuren, dem Thema oder beidem. Zumindest bei Steven Spielberg hat der Film jedoch genug Eindruck hinterlassen, um ein US-Remake durch DreamWorks zu rechtfertigen, das von Paul und Chris Weitz geschultert werden soll. Wenn man so will, kriegt Like Father, Like Son somit nun neben seinem japanischen also noch einen US-amerikanischen Erzeuger dazu.



Quellenangaben:

[1] s. o.A.: Vertauschte Babys sind daheim, in: Focus.de, 21.1.2008, http://www.focus.de/panorama/welt/saarlouis_aid_234530.html.
[2] s. Annika Joeres: Vertauschte Säuglinge. Ist das mein Kind?, in: zeit.de, 20.2.2014, http://www.zeit.de/2014/09/vertauschte-kinder-abstammung-erfahrung.
[3] Sara Gates: After Being Switched At Birth, Rebecca Chittum and Callie Johnson Wouldn’t Change A Thing, in: The Huffington Post, 22.11.2013, http://www.huffingtonpost.com/2013/11/22/rebecca-chittum-callie-johnson-switched-at-birth_n_4319243.html.


Szenenbilder “Soshite chichi ni naru”© Film Kino Text. Alle Rechte vorbehalten.

The Platoon from Hell

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Der spanische Philosoph George Santayana sagte: “Only the dead have seen the end of the war.” Ein Zitat, das sicher auf die Opfer des Afghanistan-Krieges zutrifft. Was als Folge der Terroranschläge des 11. September 2001 begann, zieht seine Schatten bis in die Gegenwart. Pro Stunde kostet der Krieg in Afghanistan den US-Steuerzahler scheinbar 10 Millionen Dollar, seit seinem Beginn vor 13 Jahren summieren sich seine Kosten auf über 700 Milliarden Dollar [1]. In dieser Zeit starben 2.351 US-Soldaten [2], vermutlich zehnmal so viele Taliban [3], aber auch über 21.000 afghanische Zivilisten [4]. Drei von ihnen wurden von einem US-Platoon getötet, das in den Medien als “The Kill Team” bekannt wurde.

Dieses Platoon, genauer gesagt die 2. Infanterie-Division, die in der Region Kandahar stationiert war, nahe des Dorfes Maiwand, diente Regisseur Dan Krauss als Thema für seine Dokumentation The Kill Team. Er rollt die Vorfälle, die sich zwischen Januar und Mai 2010 ereignet haben, für das Publikum auf – mit den für die Verbrechen verurteilten Soldaten als Protagonisten und Talking Heads. Im Zentrum steht dabei Specialist Adam Winfield, der scheinbar auf die Vorfälle aufmerksam gemacht hatte, aber nicht erhört wurde. Und sich dann im Mai 2010 selbst der vorsätzlichen Tötung schuldig machte, für die er eine Haftstrafe von drei Jahren erhielt, von der er aber nur ein Jahr verbüßte, ehe er 2012 freikam.

Insgesamt wurden fünf Soldaten zwischen 19 und 29 Jahren wegen vorsätzlicher Tötung angeklagt, darunter Corporal Jeremy Morlock, der sich in allen drei Fällen schuldig machte. Neben ihm und Winfield sprach Krauss auch mit den Privates First Class Andrew Holmes und Justin Stoner, alle Beteiligten reflektieren relativ nüchtern die Vorfälle von 2010. “Over there it’s combat, man. It happens”, zeigt Holmes beispielsweise wenig Schuldbewusstsein. Eine Eigenschaft, die scheinbar das gesamte Platoon damals an den Tag legte. “People in my platoon…they just changed”, beschreibt Winfield. “Something in them changed.” Monatelang waren sie ausgebildet worden, um zu töten. Und nun wollten sie das auch tun.

Adam Winfield ist einer von fünf verurteilten US-Soldaten des “Kill Teams”.

Die ursprüngliche Idee, Zivilisten zu töten, stammte jedoch von ihrem Vorgesetzten. Im Jahr zuvor hatte die 2. Infanterie-Division in Staff Sergeant Calvin Gibbs einen neuen Gruppenführer erhalten. Und Gibbs berichtete seinen Männern, basierend auf seinen eigenen Erfahrungen im Irakkrieg, wie leicht es sei, jemanden zu töten. Es bedürfe lediglich einer Tatwaffe, die man mit dem Toten in Verbindung bringt. Beispielsweise einer Granate. “Who’s gonna question it?”, formuliert es Morlock. “Nobody’s innocent. Fuck ’em.” Und Gibbs hatte ein Standing im Platoon. Wer seinen Anweisungen folgte, beschreibt Justin Stoner, der überlebte. Also folgten sie ihm auch im Töten von unschuldigen Afghanen.

“Alright. Sure. This is okay”, rekapituliert Morlock seine damalige Reaktion. Sein erstes Opfer war dann ein 15-jähriger Junge, den er und Holmes im Januar 2010 in einem Feld erschossen. “He didn’t register as a person (…) He was just there. I was excited”, erzählt der Corporal. Dass es sich bei dem Jungen um einen Taliban handelte, kam den anderen Platoon-Mitgliedern gar nicht in den Sinn. Und die Dorfeinwohner und Verwandten verlangten vergebens eine Untersuchung seitens der US-Armee. “Who’s gonna question it?” Unterdessen, so macht Winfield in The Kill Team Glauben, seien ihm die Vorfälle immer naher gegangen. Hilfe suchte er zuerst bei seinem Vater, selbst ein Army-Veteran, über einen Facebook-Chat.

Doch die Versuche, die Situation in Afghanistan zu melden, scheinen im Sande zu verlaufen. Zumindest gab es wohl keine Reaktion von irgendeiner Stelle. “Why are they all okay with this?”, fragte sich Winfield. Und wurde nun plötzlich selbst zur Zielscheibe. Gibbs, Morlock und Co. blieb sein Widerwillen nicht unbemerkt und wie sie innerhalb ihrer Einheit mit Petzen verfuhren, sollte PFC Stoner später miterleben müssen, als man ihn verdrosch, nachdem er Haschisch-Konsum zur Meldung brachte. “Friendly Fire” ist ebenfalls keine Seltenheit, auch dies würde wohl niemand allzu sehr hinterfragen. Keine leichte Situation, weshalb sich Winfield im Mai wohl der Situation ergab und an einer Tötung partzipierte.

Jeremy Morlock posiert mit dem Leichnam des 15-jährigen Gul Mudin.

Ans Tageslicht kamen die drei Tötungen dann dennoch, die beteiligten Personen wurden von den Medien danach zum “Kill Team” stilisiert. Die US-Armee war bestrebt, die Vorfälle herunterzuspielen. Wie immer, wenn Kriegsverbrechen aus den eigenen Reihen passieren. Und während Morlock, Holmes und Stoner in Krauss’ Dokumentation das Sichtfeld auf die Umstände erweitern, stehen doch Winfield und seine Eltern im Fokus des Films. Das personalisierte Drama um den unschuldigen im “Kill Team”. Inwieweit Winfield tatsächlich unschuldig ist, lässt sich mittels des Films schlecht beurteilen. Die wahren Opfer und Betroffenen, die Angehörigen der drei Afghanen, bleiben in The Kill Team jedenfalls ungehört.

Was die Beteiligten beschreiben, ist dabei nichts wirklich etwas Neues. Auch in Sam Mendes’ Jarhead lechzt es Peter Sarsgaard nach einer Tötung im Dienst. Immerhin ist dies die Bestimmung der Soldaten: in Afghanistan die Taliban auszumerzen. Die langwierige Suche, wer nun ein Taliban ist und wer in einem Dorf mit ihnen sympathisiert und ihnen hilft – darauf liegt wohl nicht der Schwerpunkt in der Ausbildung der jungen Männer. In diese werden dann sicher auch soziopathisch veranlagte Menschen wie Calvin Gibbs gespült, die sich aus Körperteilen ihrer Opfer Trophäen basteln. Und die ihren Untergebenen vorleben, wie einfach es ist, am Rande der Legalität und Vernunft zu leben. Und zu töten.

Eine tiefergreifende psychologische Auseinandersetzung mit dieser Problematik kann man von Dan Krauss für seine Dokumentation nicht erwarten, Ansätze davon schwingen zumindest unterschwellig in den Aussagen der Interviewten mit. Dass es dem Regisseur gelang, diese als Talking Heads zu integrieren, ist so ungewöhnlich wie bewundernswert. Speziell im Fall von Jeremy Morlock liegt die Gratwanderung zwischen Besonnenheit und Wahnsinn nah beinander, wenn er in ruhigen Worten von den Tötungen in Afghanistan erzählt oder wie man sich damit auseinandersetzte, dass auch Winfield im Zweifelsfall ein solches Schicksal hätte blühen können. Ein “Band of Brothers” sieht sicher anders aus.

Cpl. Jeremy Morlock wurde zu 23 Jahren Haft verurteilt.

Mit Archivaufnahmen, Talking Heads und dem Begleiten der Winfield-Familie gelingt es Krauss ganz gut, in bildhafter Form darzustellen, wofür Mark Boal in seinem Rolling Stones-Artikel 8.500 Wörter gebrauchte [5]. Und dennoch wäre eine Sichtweise eines hochrangigen Armee-Offiziers genauso dienlich gewesen, wie ein Einbeziehen der afghanischen Opfer. Speziell in Hinblick auf Boals Artikel überrascht und irritiert Krauss’ Darstellung von Winfield als unschuldiges Opferlamm. Selbst wenn die Beteiligten nüchtern die Ereignisse rekapitulieren, hätte Krauss Aspekte wie Reue stärker fokussieren können. So wirken die Figuren eher wie eine Bande Jungs, die eben bei einer Dummheit erwischt wurden.

Dass es zu solchen Vorfällen seitens US-Soldaten gegenüber Zivilisten kommt, dürfte wiederum höchstens Amerikaner überraschen. Grundsätzlich ist sicher davon auszugehen, dass dieses “Kill Team” nicht das einzige seiner Art gewesen sein dürfte – weder in Afghanistan noch im Irak. “None of us in the platoon (…) gives a fuck about these people”, soll Morlock am Ende seiner ersten Befragung zu den Ereignissen von 2010 gesagt haben [6]. Auch damit dürfte er nicht alleine dastehen oder überraschen. Insofern gerät The Kill Team weitaus weniger schockierend als vergleichsweise The Tillman Story oder The Invisible War. Was ihm aber nur bedingt zu Lasten fällt, dafür ist das Thema per se zu stark.

Noam Chomsky sagte: “For the powerful, crimes are those that others commit.” So in etwa lässt sich auch die Herangehensweise der Amerikaner in The Kill Team verstehen. Dabei sprechen die Tötungen von Gibbs, Morlock und Co. weniger von einem überbordendem Patriotismus, dem Irrglauben, sein Land und seine Einwohner gegen den bösen Mann in den Bergen Afghanistans zu verteidigen, als dass sie ein Zeichen dessen sind, wie falsch dieser Krieg tatsächlich ist. Und dass so etwas wie ein „Sinn“, so es ihn denn je gab, sich schon lange verabschiedet hat. Was bleibt, ist eine Art Fiebertraum. Entsprechend resümiert Morlock gegen Ende des Films: “It was impossible not to surrender to the insanity of it all.”


Quellenangaben:

[1] vgl. https://www.nationalpriorities.org/cost-of/.
[2] vgl. http://www.defense.gov/news/casualty.pdf.
[3] vgl. Akmal Davi: Despite Massive Taliban Death Toll No Drop in Insurgency, in: Voice of America, 6.3.2014, http://www.voanews.com/content/despite-massive-taliban-death-toll-no-drop-in-insurgency/1866009.html.
[4] vgl. http://costsofwar.org/article/afghan-civilians.
[5] vgl. Mark Boal: The Kill Team: How U.S. Soldiers in Afghanistan Murdered Innocent Civilians, in: Rolling Stone, 27.3.2011, http://www.rollingstone.com/politics/news/the-kill-team-20110327?page=8.
[6] ebd.

Szenenbilder “The Kill Team”© Oscilloscope. All Rights Reserved.

This is the best place to be

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Allgemein heißt es ja immer, Deutschland wäre besonders gut aus der Weltwirtschaftskrise gekommen, dabei herrschte hierzulande im vergangenen Dezember eine Arbeitslosenquote von 6,4 Prozent. In den Vereinigten Staaten wiederum betrug sie zum gleichen Zeitpunkt nur 5,6 Prozent. Eine Zahl, über die man im Bundesstaat North Dakota nur müde Lächeln kann, schließlich ist die Zahl der Arbeitslosen dort sogar nur halb so hoch. Genauer gesagt ist North Dakota der US-Staat mit der geringsten Arbeitslosenquote – allerdings nahm dort zugleich von 2012 auf 2013 die Zahl der Obdachlosen um 200 Prozent zu. Kein Widerspruch, sondern ein Zusammenhang, wie The Overnighters dokumentiert.

Seit 2005 in dem Städtchen Parshall Öl gefunden wurde, herrscht in North Dakota ein Ölboom. Das betreffende Feld liegt im Williston Becken, was dazu führt, dass Williston zur populären Anlaufstelle für Arbeitslose anderer Bundesstaaten avanciert. Zwischen 2010 und 2013 stieg die Bevölkerung in Williston um 36 Prozent von unter 15.000 auf 20.000 an. Auch in anderen Landkreisen North Dakotas nahm die Einwohnerzahl zu, verdoppelte sich teils sogar. Was nicht ohne Probleme bleibt, denn viele Städte wie Williston sind von ihrer Infrastruktur auf eine derart schnelle Bevölkerungsexplosion nicht eingestellt. Was wiederum den drastischen Anstieg bei der Zahl der Obdachlosen in North Dakota erklärt.

In Williston finden sie Unterschlupf in der Concordia Lutheran Church von Pastor Jay Reinke, der bereits gut 1.000 Männer in der Kirche hat übernachten lassen. Sie schlafen in Räumen und Gängen, in ihren Fahrzeugen auf dem Kirchenparkplatz. Zehntausende kommen nach North Dakota auf Arbeitssuche, einen Platz zum Unterkommen haben die wenigsten von ihnen. “I’m just at the end of my rope”, erklärt einer der Männer. Endstation Williston heißt es für viele. Pastor Reinke hat derweil nur eine Bitte: “Don’t spill coffee on the carpet. Drives me crazy.” Seine Gäste danken es ihm, ist Reinkes Kirche doch einer der einzigen Orte, wo sie sich willkommen fühlen, in einer Stadt, die ihnen skeptisch gegenübersteht.

“This normally peaceful town is livin’ in fear”, so ein Nachrichtenbeitrag, als eine Lehrerin von zwei Zugereisten ermordet worden sein soll. In der Tat hat sich in North Dakota zwischen 2007 und 2012 die Kriminalität verdoppelt. Und mit ihrem Anstieg fällt die Geduld der Anwohner mit den Neuankömmlingen. Auch innerhalb Reinkes Kirchengemeinde, die bei aller Nächstenliebe und Christlichkeit wissen will, wie viele Männer der Pastor noch aufnehmen will. Und wie lange das Ganze weitergeht. “I don’t say ‘no‘ very well”, gesteht der dreifache Familienvater, der seine Frau und Kinder im Zuge seiner Hilfsbereitschaft hintenanstellt. Immerhin hat er aber seine Familie bei sich, würden vermutlich manche sagen.

Schließlich haben die Meisten von ihnen ihre Liebsten zurücklassen müssen, um in North Dakota ihr Glück zu versuchen. Kontakt mit der Gattin und den Kindern wird per Telefon oder Skype aufrecht erhalten. “I came out here to save my family and it’s probably costing me my family”, sagt später einer der Männer verzweifelt. Zu Beginn des Films hatte er Händeringend nach einer Anstellung gesucht. Denn wer im Ölfeld nach zwei bis drei Tagen keine Arbeit findet, kriegt selten eine, weiß ein Kirchengemeindemitglied. Die Männer wiederum ringen mit sich selbst, haben ihren Stolz und ihre Würde längst verloren. Die Einwohner North Dakotas wollen sie nicht hier haben, die Männer selbst wären sicher auch lieber woanders.

Trotzdem ist es aktuell ihre beste Chance. “This is the best place to be, man”, heißt es an einem Lagerfeuer dreier Männer, die vor ihren Wohnwagen sitzen. Ein anderer meint “this is definitely the place for a second chance”, immerhin würden die Arbeitgeber nicht einmal nach möglichen Vorstrafen fragen. Was im Verlauf von The Overnighters noch entscheidend wird, wenn Reinke einen vorbestraften Sexualstraftäter bei sich Zuhause aufnimmt. Schlicht, damit nichts davon nach außen dringt. Denn die Lokalpresse, so Reinke, führt einen Feldzug gegen ihn und die Overnighters. Und natürlich findet sie anschließend heraus, wer bei Reinke wohnt, versucht vom Pastor auf offener Straße ein Statement zu bekommen.

Einen der Journalisten der betreffenden Zeitung befragt Regisseur Jesse Moss genauso wenig eindringlicher für seine Dokumentation wie Anwohner oder jemand von der Stadtverwaltung. Im Mittelpunkt des Films steht Pastor Reinke – was sich mit fortlaufender Dauer als immer größeres Problem herausstellt. Denn die Motivation des Gottesmanns bleibt schwammig und erklärt sich nicht mit reiner Nächstenliebe. Vielmehr wirkt Reinke wie ein Narzisst und Selbstdarsteller, was er in mehreren Szenen unter Beweis stellt. So sagt er im einen Moment einem Mann, ihm gehöre seine Liebe und Unterstützung, wenn ihn der Film das nächste Mal wieder besucht, wurde er von Reinke verstoßen. Und ist damit nicht alleine.

Als ihm das Problem mit dem Sexualstraftäter – dessen Vorstrafe darin liegt, dass seine damalige Freundin minderjährig war – zu viel wird, sucht Reinke das Gespräch mit ihm. Dies wiederum in einem Food Court, was sein Gegenüber merklich irritiert. Warum er so eine Szene verursache, will er von Reinke wissen. Die Antwort findet sich in Moss’ Film. Ein Echo hierzu gibt es gegen Ende, wenn Reinke erneut die Öffentlichkeit sucht, um seiner Frau ein niederschmetterndes Geständnis zu machen. Das Ganze von einem Pastor und Menschenhirten. Moss befeuert und bestätigt Reinkes Verhalten durch seine fehlende Distanz dabei nur noch, was The Overnighters, wie sich zeigt, immer stärker zum Hindernis wird.

Das eigentliche Thema des Films, die Obdachlosensituation in Folge des Ölbooms, gerät verstärkt in den Hintergrund. Am Ende dreht sich The Overnighters fast singulär um Jay Reinke, den Jesse Moss durch seine Aufmerksamkeit durch den Film tiefer in eine Situation geritten hat, die dieser vielleicht besser vermieden oder zumindest entschärft hätte. Angesichts des sozial aufgeladenen Themas ist es bedauernswert, in welche Richtung sich die Dokumentation entwickelt, was sich durch einen kompetenteren Regisseur hätte vermeiden lassen können. Dass der Film dann so endet, wie er es tut, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Jesse Moss hätte sich vermutlich kaum einen „besseren“ Schluss wünschen können.


Szenenbilder “The Overnighters”© Dogwoof. All Rights Reserved.

All things shining

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Geht um die Filmografie von Terrence Malick, so gibt es eine Zeit vor und eine Zeit nach The Thin Red Line. Waren zwar auch Badlands und Days of Heaven von Bildern dominiert und mit Voice-overn versehen, so stellt Malicks Regie-Rückkehr nach 20 Jahren Abwesenheit den Prototyp seines gegenwärtigen Schaffens dar. Eine sich beinahe verselbständigende Kamera, eine Flut inzwischen zum Klischee verkommener innerer Monologe. Was Malick in The New World, The Tree of Life und To the Wonder perfektionierte, findet in The Thin Red Line seinen Ursprung. Dabei basiert Malicks dritter Film zwar auf James Jones’ gleichnamigem Roman, doch dieser dient ihm bloß als Aufhänger für seine philosophischen Gedanken.

Malick greift Figuren und Handlungsstränge aus Jones’ Roman auf [1], im Fokus steht jedoch nicht ein bestimmter Charakter oder eine spezielle Handlung. Im weitesten Sinne nicht einmal die Schlacht um Guadalcanal oder der Zweite Weltkrieg. Vielmehr geht es Malick um den Krieg an sich, seine Beziehung zum Menschen und dessen Zugehörigkeit sowie Zwist mit der Natur. “It is a war film that, ultimately, is no longer about war”, resümiert Peebles, “it transcends the genre.”[2] Eine Entscheidung, die dem US-Regisseur durchaus vorgehalten wurde [3], die gleichermaßen aber auch Applaus fand. Nicht zuletzt als cineastisches Gegenstück zu Steven Spielbergs Saving Private Ryan, der im selben Jahr anlief.

Beide Filme waren 1999 für mehrere Oscars nominiert, aber nur Spielbergs Pathos sollte prämiert werden. Dies lag zum einen natürlich an der unterschiedlichen Herangehensweise ihrer Regisseure, aber auch an der ihres Filmstudios [4]. Für Saving Private Ryan betonte der Verleiher “Spielberg’s new role as artistic chronicler of the Second World War”, stellt Flanagan fest [5]. Ganz im Gegensatz zu 20th Century Fox, die “never chose to emphasise any potential that The Thin Red Line might have to contribute to or even change perceptions of World War Two”[6]. Wo Spielbergs Film helfen sollte, in Erinnerungen zu schwelgen, wollte Malick vielmehr inspirieren, über den (Kino-)Tellerrand hinaus zu blicken [7].


Wo Spielberg der Geschichte huldigt, angefangen mit seiner von der Rezeption gefeierten Normandie-Szene, inszeniert in The Thin Red Line Malick “a myth that rejects historical analyses”[8]. Für ihn geht es weniger darum, wie Spielberg ein Bild des Good War zu zeichnen [9], in dem sich die Alliierten gegen das personifizierte Böse der Achsenmächte auflehnten, bei ihm drängt sich vielmehr „der Un-Sinn des Kriegs in jeder Einstellung auf“[10]. Malick erzählt im Gegensatz zu Spielberg „ohne verlogene Heroisierung“, wie Suchsland bemerkt, „aber auch ohne prinzipielle Verdammung“[11]. Vielleicht spielte auch deshalb The Thin Red Line in den USA nur ein Siebtel der Summe von Saving Private Ryan ein [12], [13].

Für Malick ist die Schlacht um Guadalcanal, die im Zentrum seines Films steht, letztlich eine Episode von vielen in der Menschheitshistorie, der er sich bedient, um mit seiner „Geschichte über den Krieg im Pazifik (…) über das Wesen des Menschen“ zu philosophieren [14]. Am eindrücklichsten geschieht dies über zwei der vielen Soldaten-Figuren, namentlich Witt (James Caviezel) und den die meiste Zeit nur als Voice-over existierenden Train (John Dee Snuts), die Malicks Idee eines hylozoistischen Weltbildes auf die Tonspur transportieren. Diesem widmet sich der Regisseur gleich zu Beginn seines Films in einer rund zehnminütigen Szene, die von ihren transportierten Thesen an Ralph Waldo Emerson erinnert.

Es ist Witt, der eingangs mit einem Kameraden seiner Einheit AWOL geht, auf einer nahe gelegenen Insel dem scheinbaren Paradies der Einwohner beiwohnend. “Nature never wears a mean appearance”, schrieb Emerson einst [15]. In den Wäldern, den Plantagen Gottes, “we return to reason and faith. There I feel nothing can befall me in life – no disgrace, no calamity (…) all mean egoism vanishes”, resümiert Emerson [16]. Auch Witt findet hier das Paradies, sieht hier jenes herrliche Licht des Seins. “I seen another world”, bekräftigt er gegenüber seinem Vorgesetzten, Sergeant Welsh (Sean Penn). Schiebt angesichts des Kriegsalltags allerdings nach: “Sometimes I think it was just my imagination.”


“Then you’ve seen things I never will”, entgegnet ihm Welsh halb zynisch, halb bedauernd. Er agiert in The Thin Red Line als Gegenstück zu Witt, der Film wird durch drei Dialoge der beiden strukturiert. Mit seinem Zynismus schaut Welsh hinter die Fassade dieser Welt (“We’re living in a world that’s blowing itself to hell as fast as everybody can arrange it”), ist aber in seinem Kern dennoch Militär geblieben. “I guess we don’t see the bigger picture, do we?”, sinniert auch John Travoltas General Quintard anschließend im Gespräch mit seinem Untergebenen, Colonel Tall (Nick Nolte). Sie alle drei sind Männer, die die Plantage Gottes verlassen haben. “All I might have given for love’s sake”, klagt Tall. “Too late.”

Der Colonel wiederum ist womöglich die nächste Stufe einer Karriereleiter, die Welsh selbst noch erklimmen muss. Tall wirft sich mit Inbrunst in die Schlacht um Guadalcanal, in seinen ersten Krieg in 15 Jahren. Nur hier kann er sich profilieren, selbst weiter aufsteigen zum General, was ihm nach eigener Einschätzung schon längst gebührt. Entsprechend wird auch ihm im Verlauf mit Captain Staros (Elias Koteas) ein charakterliches Gegenstück serviert, mit dem er sich reiben darf. “Played a role I never conceived”, hadert Tall an einer Stelle mit sich und seinem Schicksal, um Staros gegenüber zu betonen “Nature’s cruel” und somit dem Emersonschen Bild (“Nature never wears a mean appearance”) zu widersprechen.

Insofern teilen sich auch die Soldaten in The Thin Red Line in das klassische malicksche Lager von Natur und Gnade auf, das der Texaner in The Tree of Life postulieren wird. Auf der einen Seite die Talls und Welshes oder die Dales, die (toten) Feinden die Goldzähne herausreißen, weil der ganze Krieg sowieso, wie Welsh es formuliert, sich nur um Eigentum dreht [17]. Ihnen gegenüber stehen Figuren wie Staros, Witt, Train und Bell (Ben Chaplin), die ihre Umwelt reflektierter wahrnehmen und versuchen, in all dem Wahnsinn einen Sinn zu erkennen. Die übrigen Charaktere verteilen sich dazwischen.“I killed a man”, kommentiert beispielsweise Doll (Dash Mihok) an einer Stelle. “Worst thing you could do.”


Im weitesten Sinne sind es Figuren ohne Persönlichkeit, austauschbar. „Die Soldaten sind kaum voneinander unterscheidbar“, bemerkt Kronenmeyer, „sie verschmelzen zu einer großen Masse“ [18]. Ähnlich gerät im Film einer von Witts Gedankensträngen: “Maybe all men got one big soul… who everybody’s a part of. All faces of the same man. One big self.” Auffällig ist dabei auch, dass im Gegensatz zu Saving Private Ryan die Soldaten hier nicht „Miller“ heißen, keine klassischen Nachnamen wie „Jackson“ tragen, sondern in der Regel kurze Namen mit vier oder fünf Buchstaben, die ihren Charakter und seine Rolle beschreiben. Von Witt bis Tall, von Bell bis Doll, ein kranker Soldat heißt da natürlich Sico.

Malick erzählt nicht dezidiert die Geschichte einer bestimmten Person, “the audience would be given no guide (even to the extent of being denied a clearly identifiable protagonist to clarify themes on their behalf), in effect being left to venture through a moral swamp alone”[19]. Vielmehr wirken die Soldaten im Film wie verschiedene Facetten eines menschlichen Gesichts, ähnlich wie von Witt geäußert und dabei entfernt an Heidegger erinnernd [20]. Der wiederum, mit dem sich Malick in seinem Philosophiestudium selbst eingehender beschäftigte, schrieb dereinst: „[Natur] bedeutet das Sein des Seienden“[21] und unterfüttert damit Emerson [22]. In dieser Linie lässt Malick dann gerade Train folgen.

“What is this war at the heart of nature?”, fragt sich Train als erste Stimme, die wir im Film hören. “Why does nature vie with itself?” Damit meint die Figur zum einen die Schlacht um Guadalcanal, ein Krieg im Herzen der Natur, die sonst klares Wasser und Papageien bestimmt. Andererseits aber auch den Konflikt zwischen den Menschen, die selbst ein Sein des Seienden darstellen und so das Herz der Natur. “This great evil. Where does it come from?”, fragt Train später. Wie kam es in die Welt, aus welcher Wurzel stammt es? “Who’s doing this?”, will Train wissen. “Is this darkness in you too?” In dem Kontext passt Talls Fazit, die Natur sei grausam. “How did we lose the good that was given us?”, klagt Train.


Wo Train hadert und zweifelt, versprüht Witt Zuversicht. “If nature is the heart of the film, then (…) Witt is its soul”, bemerkt McCracken [23]. James Caviezels Figur ist die Personifikation der emersonschen Philosophie [24] und damit in ihrem jovialen Optimismus die offensichtlichste Identifikationsfigur des Zuschauers. “You still believing in the beautiful light, are you?”, fragt Welsh in seinem dritten und finalen Dialog mit Witt. Der entgegnet, fast schon messianisch [25], seinem Vorgesetzten: “I still see a spark in you.”[26] Witt ist es daher am Ende, der sich für das Wohl seiner Einheit (“my family”) – opfert. “Where’s your spark now?”, meint Welsh trotzig bei Witts Beerdigung – und kämpft zugleich mit den Tränen.

Ebenso optimistisch schickt sich Bell an, der mittels Rückblenden zu seiner Frau (Miranda Otto) in The Thin Red Line die Liebe repräsentiert. “Love. Where does it come from? Who lit this flame in us?”, fragt er sich. “No war can put it out, conquer it”, ist er sich sicher. Und muss zum Schluss doch einer Scheidung zustimmen. “War”, befand Train zuvor bereits, “poisons the soul.” Untermalten zwar auch Badlands und Days of Heaven Voice-over, so machte sie sich Malick nun vollends zu eigen. Sie sind seine Zugabe zu Jones’ Roman [27] und als solche scheinbar eine Entscheidung, die erst in der Post-Produktion fiel [28]. Zugleich sind sie nicht jedermanns Sache, “can seem both grandiose and naïve”[29].

Für Oleszczyk ist der Voice-over “the main poetic device of the movie (…) delivered as if by a collective consciousness of the fighting American soldiers”[30]. Walsh hingegen findet, „viele Dialoge und Teile des Kommentars [hören sich] gestelzt und gekünstelt an“, es würden große Themen diskutiert, „aber sie verbleiben häufig unverdaut im Körper des Films“[31]. Streamas weist den Gedanken durchaus eine Authentizität zu [32], letztlich sind sie aber Malicks Meditationen – als übergeordnetes Sein und die Soldatenfiguren als Seiende. In der Folge ist Malicks Werk “a more intellectually challenging, thought-provoking and questioning film than Saving Private Ryan” oder andere Genrefilme [33].


Malick erzählt aber nicht nur von philosophischen Gedankenspielen, den Kern des Films bildet das rund einstündige Stürmen des für die Schlacht entscheidenden Hill 210. “A combat episode that aims not to provide consequence-free thrills but to give a sense of the unknownability, openendedness of battle”[34]. Die Japaner werden von Malick als unsichtbares Gegenüber eingeführt, sie sind nirgends zu sehen und könnten doch allgegenwärtig sein. Tall ordert die Übernahme des Hügels an, der sich Staros in einer entscheidenden Szene widersetzt, weil sie wie ein Suizidkommando erscheint und hierbei zugleich Erinnerungen an Sergio Leones Il buono, il brutto e il cattivo und jene Brückenszene hervorruft [35].

Zuvor schon betete Staros, wie Jesus im Garten Gethsemane, zu Gott: “Let me not betray me men.” Tall hingegen hinterfragt, ob sein Captain bereit sei, überhaupt das Leben eines seiner Männer zu opfern für den Gewinn der Schlacht. Es ist keine Zeit für Heldentaten, auch wenn diese nicht ausbleiben. Gleichzeitig ist jede Heldentat auch mit dem Wahnsinn der Gegenwart verbunden. Beispielsweise als Keck (Woody Harrelson) fälschlicherweise eine Granate zündet und zwar seine Kameraden rettet, dies jedoch mit dem Leben bezahlt. “A regrettable episode in a seemingly unending procession of regrettable episodes”, findet Streamas [36]. Und ergänzt: “Malick suggests (..) that all violence is equally regrettable.”[37]

Als Welsh sein Leben riskiert, damit der tödlich verletzte Tella (Kirk Acevedo) mit Morphium versorgt werden kann, will Staros ihn für eine Medaille vorschlagen. Sehr zum Missfallen von Welsh. “In a situation like that, all a man can do is shut his eyes and let nothing touch him. Look out for himself”, hatte der Sergeant zuvor noch Witt erklärt. “There’s nothing you can do for anybody else. What difference you think you can make? One single man in all this madness.” Und dennoch zeugt die Tella-Szene vom Gegenteil dessen, was Welsh Witt erklärt. Genauso wie seine Gespräche mit ihm. “I might be the best friend you ever had”, sagt Welsh eingangs zu Witt als er aufgelesen wird. “You don’t even know it.”


Mit dem Hügelsturm werden auch die Japaner zur körperlichen Präsenz – und zum Opfer. Ihre Darstellung ist tragisch und für Murauer werden hier Feinbilder „radikal zertrümmert – und nicht wie bei Spielberg zementiert“[38]. “Are you righteous? Kind?”, fragt ein japanischer Voice-over. “Know that I was too.” Als der Hill 210 eingenommen ist, steht eine Attacke auf das japanische Lager an. Im Wissen, was folgt, kann sich Witt der Tränen nicht erwehren. Die musikalische Untermalung der Attacke allein suggeriert, dass man dem Ende der Menschheit beiwohnt. Malicks Film wirkt nun wie ein Ort “where sanity and madness occupy the same continuum”[39], wie eine Welt “on the verge of total insanity”[40].

Ein Wahnsinn, der letztlich auch jene befällt, die glaubten, gegen ihn immun zu sein. Dies schließt Dale (Arie Verveen) ebenso mit ein wie die einheimische Bevölkerung, deren harmonisches Miteinander den Film als solchen einleitet. Malick inszeniert sie als paradiesischen Ur-Zustand, eine Art Garten Eden, “a haunting remembrance of some distant, more perfect world”[41]. Für Streamas jedoch gelingt es dem Regisseur nicht ganz “to create an indigenous history out of the colonist’s mythmaking”[42]. Als Witt nach dem Hügelsturm zurückkehrt in das Dorf der nahe gelegenen Insel, hat auch dort der Wahnsinn Einzug erhalten, ging die Harmonie verloren. Vielleicht wegen der Anwesenheit des Krieges.

Statt an der Schönheit der Natur zu partizipieren, haben Amerikaner wie Japaner ihren Hass ins Paradies getragen. Für Witt gibt es somit keinen Rückzugsort mehr, wirklichen Frieden kann die Figur in dieser Welt nicht mehr finden. Erst als sie stirbt, sehen wir sie erneut im Wasser ihr Glück genießen. Malicks späteres Schlussbild wird eine Pflanze sein, die am Strand ihre Wurzeln im Sand schlägt. Ein symbolisches Bild für Witts Integration ins Sein, in das größere Kollektiv. “Only one thing a man can do. Find something that’s his, make an island for himself”, realisiert auch Welsh zum Schluss angesichts Witts Schicksal. “If I never meet you in this life… let me feel the lack”, würdigt er dem gefallenen Kameraden.


Malicks Thema in The Thin Red Line ist „das Sein an sich“ und die „Schönheit der Natur oder die Schrecken des Krieges sind nur Erweiterungen dessen“[43]. Ein weiterer Gegensatz zu Saving Private Ryan, „gerade der Vergleich zeigt die riesige Kluft zwischen der staatstragenden Ideologisierung Spielbergs und der philosophischen Meditation von Malick“, findet Suchsland [44]. Jene Meditation geht dabei nicht nur von den Voice-overn aus, sondern auch von Malicks Bildern. “Opulent nature imagery is his most recognizable cinematic trademark”, weiß Sterritt [45]. Und ebenso zwiespältig wie seine Erzählstimmen, betritt Malick doch beispielsweise für Oehmann „seine Schauplätze wie eine Kathedrale“[46].

Für die einen bietet der Film “glorious wide-screen cinematography”[47] und „Bilder, wie man sie seit 20, 30 Jahren, vielleicht seit Antonioni und dem frühen Nicholas Roeg nicht mehr gesehen hat“[48], für die anderen widmet Malick “too much footage to exotic animals, waving grass, happy natives, or light filtering through trees”[49]. Das Ergebnis sei „große Filmtechnik: als großer Kitsch“ [50]. Malicks Aufarbeitung von Geschichte in Verbindung mit seiner These über das Sein der Menschheit liegt naturgemäß nahe an der Prätention und ist somit angreifbar [51]. Im Kern kann der Film über sein meditatives Erlebnis hinaus aber auch bloß als Kriegsfilm gelesen werden, wenn auch als kein gewöhnlicher.

Spielberg behauptete seiner Zeit, jeder Kriegsfilm sei ein Anti-Kriegsfilm, “to do no more than show realistic images of brutality and violence, of dead and dying soldiers, is not enough to be anti-war”, kanzelt Streamas allerdings dessen Saving Private Ryan ab[52]. Malick will keine historische Geschichte nacherzählen, sondern einen Film über den Krieg und seine Widersinnigkeit erschaffen. Seine “pacifist statements (…) remain abstract, cut off from any historical understanding of the Pacific conflict”[53]. Er erschafft sich seine eigene Realität, “a poetic creation”[54]. In der Summe nimmt Malick dabei „keine Rücksicht auf den üblichen Erzählrhythmus“[55], er erschafft vielmehr (s)einen eigenen.


Für Jackson ist das Ergebnis “a celebration of the art of filmmaking (…) but it is not about the Pacific War”[56]. Was weniger Kritik als Auszeichnung ist. The Thin Red Line erzählt nicht über die Schlacht am Guadalcanal, sondern über den Krieg an sich. Der Film sei “visual thinking”, schreibt Streamas [57]. Malick “places history and myth on the visual level, but only myth abides on the deeper level, where it must stand alone, unfortified by history”[58]. Als Folge gelang Malick “arguably the greatest war film ever made”[59]. Ungeachtet der negierten Wertschätzung mit Filmpreisen – den Goldenen Bären auf der Berlinale ausgenommen – kehrte Malick nach zwei Jahrzehnten eindrucksvoll zurück [60].

In Terrence Malicks Vita wird The Thin Red Line wohl stets eine Sonderstellung einnehmen, als Mittler zwischen seinem Schaffen, als Brücke zwischen Badlands und Days of Heaven sowie jenen Filmen, die danach kommen und in denen der Texaner sich immer stärker von den Zwängen einer Narration zu befreien gedenkt. Insofern ist Malick wohl durchaus, was Furstenau und MacAvoy als “poet-philosopher” bezeichnen [61]: weniger Erzähler als (Vor-)Denker. Die Worte von Bell an einer Stelle umgedeutet waren wir Gefangene und Malick ließ uns frei. Sodass auch der Zuschauer zu Witt werden kann, im Glauben: “I seen another world.” Selbst wenn wir glauben, es sei lediglich in unserer Einbildung gewesen.



Quellenangaben

[1] vgl. Peebles, Stacy: The Other World of War. Terrence Malick’s Adaptation of The Thin Red Line, in: Patterson, Hannah (Hrsg.): The cinema of Terrence Malick. Poetic visions of America, London 2007², S. 152-163, hier S. 153.
[2] ebd., S. 162.
[3] “Critical consensus suggested that Malick was more concerned to explore World War Two as a psycho-dramatic crucible (…) than as a matter of historical record or public remembrance”, s. Flanagan, Martin: ‘Everything a lie’: The critical and commercial reception of Terrence Malick’s The Thin Red Line, in: Patterson, Hannah (Hrsg.): The cinema of Terrence Malick. Poetic visions of America, London 2007², S. 125-140, hier S. 133.
[4] ebd., S. 127.
[5] ebd.
[6] ebd., S. 128.
[7] Saving Private Ryan, so Flanagan, sollte “an event of huge public significance” darstellen, “a chance to remember and pay tribute”. The Thin Red Line hingegen wäre mehr “a cineaste’s dream, an aesthetic event”, Flanagan, S. 130.
[8] Streamas, John: The Greatest Generation Steps Over The Thin Red Line, in: Patterson, Hannah (Hrsg.): The cinema of Terrence Malick. Poetic visions of America, London 2007², S. 141-151, hier S. 142.
[9] ebd., S. 147.
[10] Kronenmeyer, Nadja: Der schmale Grat, in: Klein, Thomas et al. (Hrsg.): Filmgenres. Kriegsfilm, Stuttgart 2006, S. 336-345, hier S. 336f.
[11] Suchsland, Rüdiger: Die Farbe des Krieges. Terrence Malicks Meisterwerk, in: Arteschock, http://www.artechock.de/film/text/kritik/s/scgrat.htm.
[12] vgl. Flanagan, S. 132.
[13] Streamas argumentiert beispielsweise damit, dass “Americans have been conditioned to want to believe in the Good War”, Streamas, S. 147.
 [14] Kronenmeyer, S. 337.
[15] Emerson, Ralph Waldo: Nature (1836), in: Ders.: Nature and Other Essays, Mineola, S. 1-34, hier S. 2.
[16] ebd., S. 3. Siehe auch seine weiteren Ausführungen: “In the wilderness, I find something more dear and connate than in streets or villages. In the tranquil landscape, and especially in the distant line of the horizon, man beholds somewhat as beautiful as his own nature”, Emerson, S. 4.
[17] “Property. Whole fuckin’ thing’s about property”, echauffiert sich Welsh.
[18] Kronenmeyer, S. 338.
[19] Flanagan, S. 129.
[20] vgl. Furstenau, Marc/MacAvoy, Leslie: Terrence Malick’s Heideggerian Cinema. War and the Question of Being in The Thin Red Line, in: Patterson, Hannah (Hrsg.): The cinema of Terrence Malick. Poetic visions of America, London 2007², S. 179-191, hier S. 183: “if beings or entities are all things that are – that is, they all are because they participate in Being.”
[21] Heidegger, Martin: Wozu Dichter?, in: Ders.: Holzwege, Frankfurt am Main 1963, S. 248-295, hier S. 256.
[22] vgl. Emerson (1836), S. 2: “Philosophically considered, the universe is composed of Nature and the Soul. Strictly speaking therefore, all that is separate from us, all which Philosophy distinguishes as the NOT ME, that is, both nature and art, all other men and my own body, must be ranked under this name, NATURE.”
[23] McCracken, Brett: The Thin Red Line, in: The Search, 12.05.2011, http://stillsearching.wordpress.com/2011/05/12/the-thin-red-line/.
[24] vgl. Emerson, Ralph Waldo: Nature (1844), in: Ders.: Nature and Other Essays, Mineola, S. 35-48, hier S. 37: “he who knows what sweets and virtues are in the ground, the waters, the plants, the heavens, and how to come at these enchantments, is the rich and royal man.”
[25] vgl. hierzu auch Murauer, Markus: The Thin Red Line. Terrence Malicks filmisches Meisterwerk über die Grenzerfahrungen der menschlichen Existenz, in: Aurora, http://www.aurora-magazin.at/medien_kultur/murauer_malick_frm.htm (offline): „Witt bleibt bis zum Schluss des Filmes eine Heiligenfigur. Er ist jene Lichtgestalt in der dunklen Welt des Tötens, die einen letzten Glauben an das Gute verkörpert.“ 
[26] siehe hierzu auch McCracken: “Where others in that film succumb to desperation or nihilistic ambivalence, Witt sees sparks of a heavenly glory.”
 [27] vgl. Peebles, S. 156: “While much of the story’s plot and dialogue is drawn from the novel, all of the extensive voice-over is Malick’s own addition.”
[28] vgl. Silberman, Robert: Terrence Malick, Landscape and ’What is this war in the heart of nature?’, in: Patterson, Hannah (Hrsg.): The cinema of Terrence Malick. Poetic visions of America, London 2007², S. 164-178, hier S. 166: “the voice-overs are not in the second draft of the screenplay.”
[29] ebd.
[30] Oleszczyk, Michal: Mapping Out the Line, in: Chicago Sun-Times Blog, 18.07.2012, http://blogs.suntimes.com/foreignc/2012/07/mapping-out-the-line.html.
[31] Walsh, David: Ein entsetzlicher Kriegszustand. "Der schmale Grat" von Terrence Malick nach dem Roman von James Jones, in: World Socialist Website, 25.2.1999, https://www.wsws.org/de/articles/1999/02/grat-f25.html.
[32] “But these are questions that, when the war is over and the victory is celebrated, are swept into the farthest recesses of memory”, Streamas, S. 143.
[33] McCrisken, Trevor B./Pepper, Andrew: American History and Contemporary Hollywood Film, Edinburgh 2005, S. 122.
[34] Flanagan, S. 136.
[35] In betreffender Szene wird eine Brücke zweimal täglich angegriffen, sie muss jedoch intakt bleiben. “I’ve never seen so many men wasted so badly”, kommentiert Blondie (Clint Eastwood).
[36] Streamas, S. 147.
[37] ebd.
[38] Murauer, Internet.
[39] Boggs, Carl/Pollard, Tom: The Hollywood War Machine. U.S. Militarism and Popular Culture, London 2007, S. 141.
[40] ebd., S. 142.
[41] McCracken, Internet.
[42] Streamas, S. 149.
[43] Glogowski, Paul Glogowski: Der Schmale Grat (The Thin Red Line). Terrence Malicks pantheistischer Blick in die Welt, in: Ikonen Magazin, http://www.ikonenmagazin.de/artikel/Malick.htm.
[44] Suchsland, Internet.
[45] Sterritt, David: This Side of Paradise, in: The Thin Red Line, Criterion Collection, S. 8-17, hier S. 10.
[46] Oehmann, Richard: Kirchgang. Terrence Malicks Verfilmung des »Why«-Plakats, in: Arteschock, http://www.artechock.de/film/text/kritik/s/scgrat.htm.
[47] Oleszczyk, Internet.
[48] Suchsland, Internet.
[49] Jackson, Kenneth: The Thin Red Line: Not Enough History, in: American Historical Association, April 1999, http://www.historians.org/publications-and-directories/perspectives-on-history/april-1999/the-thin-red-line-not-enough-history.
[50] Assheuer, Thomas: Hollywood im Krieg, in: Zeit Online, 25.3.1999, http://www.zeit.de/1999/13/199913.oscar_.xml.
[51] „Das ängstliche Geistwesen Mensch, dem Weltmutterschoß entkommen, durch Zivilisation erblindet, muß sein Schicksal in ewig gleichen Bahnen wiederholen“, resümiert beispielsweise Assheuer das Filmthema (Assheuer, Internet).
[52] Streamas, S. 150.
[53] Boggs/Pollard, S. 140.
[54] Furstenau/MacAvoy, S. 189.
[55] Oehmann, Internet.
[56] Jackson, Internet.
[57] Streamas, S. 150.
[58] ebd.
[59] Sterritt, S. 8.
[60] Laut Flanagan “questions were asked about how Malick would fit into the new topography of American film” (Flanagan, S. 126). Auch Sterritt erwähnt, “Hollywood had gone through drastic changes while he walked the earth for twenty years, and the new corporate chiefs preferred market-friendly blockbusters to offbeat art pictures” (Sterritt, S. 8). Derweil betonen Furstenau und MacAvoy “Malick’s films are often judged to be perversely obscure, a positive quality from Hollywood’s point of view, which values obscurity as an indicator of artistic seriousness” (Furstenau/MacAvoy, S. 180).
[61] Furstenau/MacAvoy, S. 182.


Szenenbilder “The Thin Red Line”© 20th Century Fox. All Rights Reserved.

Once the soul was perfect

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Er hat es mal wieder getan, Terrence Malick, „der gediegenste Schwurbelfilmer aller Zeiten“[1]. Wie bereits mit The Tree of Life und insbesondere To the Wonder hat der texanische Regisseur das Publikum gespalten. So sehr, wie vermutlich noch nie, was durchaus kalkuliert sein mag. Denn wie bereits anderswo angemerkt, ist sein jüngster und siebter Film Knight of Cups den beiden Vorgängern nicht unähnlich. Mancher Kritiker sieht sogar eine potentielle Trilogie, die hier zu ihrem Abschluss kommt. Das Handwerk Malicks ist in Knight of Cups offensichtlich: ein stummer, sinnierender Hauptdarsteller, hübsche tänzelnde Frauen, ein bedeutungsschwangerer Voice-over und solche Themen wie Liebe, Zugehörigkeit, Einsamkeit und der Sinn des Lebens im Zentrum seines Films.

Die Handlung ist wie so oft mehr Setting, lediglich ein Rahmen. Der Zuschauer begleitet dabei den Hollywood-Autor Rick (Christian Bale) durch vereinzelte Erinnerungen aus dessen Leben. Von illustren Partys voller attraktiver und entsprechend narzisstischer Menschen wie die von Tonio (Antonio Banderas), hin zu Treffen mit seinem Bruder Barry (Wes Bentley) und ihrem Vater Joseph (Brian Dennehy), vor allem jedoch bei Ricks verschiedenen romantischen Affären. Hierbei handelt es sich um Models wie Della (Imogen Poots) und Helen (Freida Pinto), um Nachtclub-Tänzerinnen wie Karen (Teresa Palmer), auch verheiratete Frauen wie Elizabeth (Natalie Portman) oder, mit einer Sonderstellung, Ärztin Nancy (Cate Blanchett), mit der Rick eine gescheiterte Ehe verbindet.

Rick ist dabei ein Ruheloser, “a pilgrim in this world”, wie sein Vater sagt. Er sucht – wie wir alle – seinen Platz in dieser Welt. “I can’t remember the man I wanted to be”, verrät uns die Figur an einer Stelle hinsichtlich ihrer Zweifel. „Jene große, kosmologische Sinnsuche, die Malicks Filme inzwischen mit ziemlicher Ausschließlichkeit sind“ bildet auch das Fundament von Knight of Cups [2]. Dabei sollte der Fokus nicht zu sehr auf die Rollenbeschreibung gesetzt werden. Dass Rick ein wohlhabender, in Armani gekleideter Hollywood-Mensch ist, der sich in seiner Freizeit mit jungen hübschen Frauen verlustiert, ist bei Malick weniger Thema als Setting. Wer darüber nicht hinwegsieht, muss wie Bradshaw resümieren, dass Ricks Situation die “least interesting spiritual crisis” ist [3].


Es geht in Knight of Cups nicht um Hollywood oder den Lebensstil der Schönen und Reichen. Im Prinzip unterscheidet sich Rick nicht sehr viel mehr von den anderen malickschen Figuren wie Neil in To the Wonder oder John Smith in The New World: Stets sind es Männer, die sich nach Liebe, Frieden und Freiheit sehnen. “I always think that women are going to safe me, lead me through to a better life, that they can change and redeem me”, legte schon Nick Hornby seiner Figur in High Fidelity in den Mund [4]. Ähnlich ergeht es auch Rick, Neil und Co. in Malicks Filmen – ob diese Komödienautoren sind oder Entdecker ihrer Majestät ist von keiner Bedeutung. Sie alle sind Platzhalter für den Mensch an sich, auf der Suche nach seiner Bestimmung. Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens.

Innerhalb des Films rezitiert Ricks Vater eine eigene Geschichte eines jungen Prinzen, der einst auszog, um eine Perle zu finden, stattdessen aber vergass, wer er war. Eine Anekdote, die sowohl für Rick steht wie für uns alle. Bales Figur wandelt scheinbar ziellos durch dieses Leben, die Treffen mit seinen Kollegen oder Agenten gehen ebenso an ihm vorüber wie die Partylandschaft von Tonio. Geborgenheit verspricht sich Rick von seinen weiblichen Bekanntschaften. “You don’t want love”, urteilt Della. “You want a love experience.” Sie alle scheinen, ähnlich wie Marina und Jane in To the Wonder, ganz vernarrt in Rick. Doch genauso wie die Damen im Vorgänger finden sie bei ihm kein Glück, verkommen vielmehr zu einer Parade, die sich einander den Rick-Staffelstab weiterreicht.

Der Kern der Unzufriedenheit der Figur scheint sich in der Vergangenheit zu finden. Auch Rick und Barry verloren einst einen Bruder, ähnlich wie Jack und Steve in The Tree of Life. Dort wie hier ist die Beziehung der Söhne zu ihrem Vater vorbelastet – nicht zuletzt wegen der Schuldfrage des Brudertodes. Erneut verarbeitet Malick somit jenes biografische Trauma, das bereits das Fundament für seinen fünften Film darstellte. Und wenn man so will, kann Knight of Cups in dieser Hinsicht gewissermaßen als Fortsetzung zu The Tree of Life gesehen werden, mit Christian Bale als Ersatz für Sean Penn und Brian Dennehy für Brad Pitt. Aber auch so scheint Ricks Bruder Barry ähnlich ruhelos wie der Rest der Familie, jedoch mit einer tiefsitzenden, destruktiven Aggression versehen.


Ein Subplot, zu dem Malick immer wieder zurückkehrt, der jedoch ebenso wenig wie der Rest des Films in gewohnter Manier erzählt wird. Sein Werk “is designed not to play out dramatic encounters in a theatrical way, but to capture moments in their immediate essence, much as one might remind them”, findet McCarthy [5]. “It’s a misapprehension to say Malick doesn’t care about story”, betont Zeitchick dabei, “it just comes to us in a different way.”[6] Für Borcholte ist das Ergebnis sogar „vielleicht der zugänglichste und kohärenteste Malick-Film seit (…) ’The Thin Red Line’”[7]. Auch wenn sowohl seine Themen wie seine Inszenierung vom Feuilleton und den Kritikern nach des Regisseurs nun drittem Film in bloß drei Jahren inzwischen reichlich zwiespältig wahrgenommen werden.

Die Inszenierung sei „nur noch lächerlich“ heißt es da [8], der Film „erinnert an Parfüm-Werbung in der Dauerschleife“[9]. Malicks Stil, der einst The Thin Red Line eine Sonderstellung verlieh und den Texaner endgültig zum Film-Poeten erhob, scheint sich nun gegen ihn gekehrt zu haben. Für Barber ist Knight of Cups daher eine “ludicrous self-parody”[10], ähnlich sieht es Bradshaw, der kritisiert, Malicks “style is stagnating into mannerism, cliche and self-parody”[11]. Eine Ansicht, mit der er nicht alleine dasteht. Zwar schreibt McCarthy dem jüngstem Werk zu, “a resolutely poetic and impressionist film” zu sein, sieht in ihm aber auch “a certain tedium and repetitiveness”[12]. Oder wie Maier meint: „Nur eine Weiterführung der bereits bekannten Form des filmischen Essays.“[13]

Emmanuel Lubezkis Bilder seien durchaus “lovely to regard – but only diehard Malick fans may not tire of watching the same tropes rearranging indefinitely”, resümiert Kohn [14]. Immerhin: Wo To the Wonder sich zuvorderst wie ein Best-of von Malicks bisherigem Schaffen anhörte, rezitiert sich der 71-jährige Regisseur in Knight of Cups nicht primär selbst. Nichtsdestotrotz sind Lubezkis Bilder und der sinnierende Voice-over natürlich immer noch vorhanden – und nicht (mehr) jedermanns Sache. “Merely (..) picture-postcard snapshots”, urteilt Fujishima über die Arbeit des Kameramanns [15]. Und ätzt, der Voice-over “seems to plumb new depths of platitudinous banality”[16]. Sogar Zeitchik räumt ein, Knight of Cups sei “less a new work than an extension of all [Malick’s] been up to”[17].


Das ist natürlich keineswegs falsch, aber zugleich auch nur bedingt richtig. Befassten sich die letzten beiden Filme mit dem Erwachsenwerden und Familienleben sowie Liebe und Ehe, liegt der Fokus dieses Mal konkret auf Rick als Suchendem. Obschon er alles hat, was sich die meisten Menschen wohl erträumen, erfüllt ihn das nicht mit Zufriedenheit. Die unberechenbare Della ebenso wenig wie die anmutig schöne Helen. Malick reißt zumindest an, dass es einen Rick vor jenen Erinnerungen gab, die wir sehen. “You’re different these days”, stellt Ex-Frau Nancy fest, mit der Rick zumindest zeitweise glücklich gewesen sein muss. Ähnlich zufrieden sehen wir ihn im Folgenden nur noch mit der unbeschwerten Karen und der hin und her gerissenen Elizabeth.

All jene Sorgen, die sich erstere nicht macht, lasten auf den Schultern von letzterer. “Once the soul was perfect and had wings and could soar into heaven”, heißt es an einer anderen Stelle, die die Menschen somit zu gefallenen Engeln macht, zurückgelassen und verloren auf der Erde, einen Weg zurück ins Paradies suchend. Entsprechend macht es Sinn, dass Malick seine Figur in die Stadt der Engel, Los Angeles, sowie später auch in den Sündenpfuhl Las Vegas platziert. “Find your way. From darkness to light”, bleut Joseph seinen Söhnen ein. Nur den Weg selbst kann er ihnen nicht zeigen. Und Rick und Barry, so hat man den Eindruck, nicht finden. “All those years living the life of someone I didn’t even know”, reflektiert der Hollywood-Autor sein leeres luxuriöses Lifestyle-Leben.

“Malick is too vague about the nature of his hero’s dissatisfaction to engage us”, kritisiert Barber ähnlich wie Bradshaw [18]. Dabei missverstehen beide womöglich, dass Malicks Protagonisten keine gewöhnlichen Figuren sind, vielmehr bedient sich der Regisseur seiner Darsteller “as vessels for his themes and ideas”, wie Chang kritisiert [19]. Malick skizziert seine Charaktere inzwischen nur noch rudimentär, ein Drehbuch lag in Knight of Cups wie bereits in To the Wonder nicht mehr zugrunde [20]. Dies rührt zugleich in einem Vertrauen für sein Ensemble, selbst ihre Figuren mitzugestalten und diese zu formen. Wie viel von deren Interpretation es dann jedoch in den Film schafft, ist sicher offen. Entsprechend dauerte es zwei Jahre, ehe sich Knight of Cups in der Post-Produktion fand.


Gerade dass der Film dabei nicht wirklich zusammenhängend sondern mehr episodenhaft erzählt wird, gereicht ihm dabei für meinen Geschmack zum Vorteil. Kohns Empfinden, dass “it’s restlessness eventually grows tedious”[21] kann zumindest ich nicht beipflichten. Vielmehr erinnert mich die Art der Inszenierung – nicht zuletzt auch aufgrund des Settings – an Paolo Sorrentinos ähnlich aufgebauten und meisterhaften La grande bellezza. Kein Wunder rücken andere Kritiken den Film thematisch in die Nähe von Federico Fellini und dessen Meisterwerke wie La dolce vita oder . Fujishima sieht hierbei sogar eine Erklärung für die Gestaltung und das Scheitern des Films: “In some ways, this is the filmmaker’s 8½: a feature-length riff on his own creative frustration.”[22]

Und in der Tat wirkt der Film und seine Rezeption irgendwie durchaus verwandt mit Fellinis Magnum opus. „Du willst von der Verwirrung erzählen, die jeder in sich spürt“, heißt es in diesem an einer Stelle hinsichtlich des Films im Film von Guido (Marcello Mastroianni). Dieser sei bloß eine „Aneinanderreihung überflüssiger Episoden“. Nur will Knight of Cups weniger Kommentar auf die Filmindustrie sein als auf das Leben. Am Ende steht dabei natürlich wieder eine Frau, Isabel (Isabel Lucas), der sich der Film jedoch nicht wirklich widmet. Sie ist einfach da und Rick inzwischen Vater. Und, so wirkt es jedenfalls, glücklich. Angekommen. “I was afraid when I was young”, sagt Rick in einer Szene. “Afraid of life.” Aber wer ist das nicht? So hört es die Figur auch von ihrem Vater, der sich in ihr wiederfindet.

Womöglich musste Rick dieselbe Erfahrung machen wie Nick Hornbys Romanfigur: “Maybe we all live life at too high a pitch, those of us who absorb emotional things all day, and as a consequence we can never feel merely content.”[23] Erst indem Rick selbst zum Vater wird, kann er als Sohn seinem eigenen Vater vergeben. Vielleicht ist dies die Botschaft des Films – wer kann bei Malick da schon sicher sein? –, dass der Sinn des Lebens im Schenken von Leben steckt. Genau weiß man dies natürlich nicht, da der Film doch etwas kryptisch, da nicht chronologisch erzählt, ist. Genauso wie die Hauptfigur weniger Zugang zu ihren Gedanken gewährt als Hunter McCracken/Sean Penn sowie Olga Kurylenko zuvor. Die Bilder sprechen für sich – und lassen zugleich Deutungen offen.


“In his own idiosyncratic way, Malick comes as close as anyone does today to making silent films”, findet McCarthy [24]. Die Bilder stehen beim Texaner über allem, sie sind es, die seine Geschichte erzählen, die das Thema und Motiv als Handlung tragen. Immer wieder suchen sie sich dabei den Weg an den Strand oder ins Wasser eines Pools, wo Rick die meisten seiner weiblichen Partner hinführt. “The film’s signature shot”, kommentiert Chang amüsiert [25]. Man mag es als Taufe der Liebe zur jeweiligen Dame lesen, aber schon Emerson sprach vom Fluss als Erinnerung an “the flux of all things”[26] und für Naturphilosoph Thales war Wasser der Urgrund allen Seins [27]. Kein Wunder, dass Rick sich immer wieder zu diesem hingezogen fühlt, wie viele malicksche Figuren vor ihm.

Mancher Kritiker durchschaut das durchaus. “Those who have had their fill with the director’s impressionistic musings will find his seventh feature as empty as the lifestyle it puts on display”, räumt Chang ein. “For the rest of us (…) this cinematic oddity represents another flawed but fascinating reframing of man’s place in the modern world.”[28]. Ähnlich wie seine Figuren scheint auch Malick derzeit vielleicht seinen Platz in der Kinolandschaft zu suchen. Antworten hält eventuell sein nächstes Werk – das wohl Weightless heißen soll – bereit, auch wenn dieses back-to-back mit Knight of Cups entstand. Gut möglich, dass Malick sich auch darin treu bleibt. Das Ergebnis wäre dann wie zuletzt sicher “infuriating to some” und “thrilling to others”[29]. Eben ein echter Terrence-Malick-Film.


Quellenangaben:

[1] Maier, Roland: Knight of Cups oder L.A.ngeweile, in: Outnow, 15.2.2015, https://outnow.ch/Movies/2015/KnightOfCups/Review/.
[2] Foerster, Lukas: Kosmologische Sinnsuche in Terrence Malicks Knight of Cups, in: Perlentaucher, 8.2.2015, https://www.perlentaucher.de/berlinale-blog/522_kosmologische_sinnsuche_in_terrence_mailcks_%22knight_of_cups%22_(wettbewerb).html.
[3] Bradshaw, Peter: Berlin 2015 review: Knight of Cups – Malick’s back! With the least interesting spiritual crisis in history, in: The Guardian, 8.2.2015, http://www.theguardian.com/film/2015/feb/08/knight-of-cups-review-film-terrence-malick-christian-bale.
[4] Hornby, Nick: High Fidelity, London, 2000, S. 50.
[5] McCarthy, Todd: Knight of Cups. The Berlin Review, in: The Hollywood Reporter, 8.2.2015, http://www.hollywoodreporter.com/movie/knight-cups/review/771145.
[6] Zeitchik, Steven: “Knight of Cups”: Why Terrence Malick is at the top of his game, in: L.A. Times, 9.2.2015, http://www.latimes.com/entertainment/movies/moviesnow/la-et-mn-knight-of-cups-terrence-malick-movie-christian-bale-20150209-story.html#page=1.
[7] Borcholte, Andreas: Berlinale-Film von Terrence Malick. Im Dolce-Vita-Wahn, in: Spiegel Online, 8.2.2015, http://www.spiegel.de/kultur/kino/berlinale-knight-of-cups-von-terrence-malick-im-wettbewerb-a-1017374.html.
[8] Maier, Internet.
[9] o.a.: “Knight of Cups”. Wie ein langer Werbeclip, in: Berliner Zeitung, 8.2.2015, http://www.bz-berlin.de/kultur/berlinale/knight-of-cups-wie-ein-langer-werbeclip.
[10] Barber, Nicolas: Knight of Cups is Terrence Malick’s worst, in: BBC, 10.2.2015, http://www.bbc.com/culture/story/20150210-terrence-malicks-worst-film-ever.
[11] Bradshaw, Internet.
[12] McCarthy, Internet.
[13] Maier, Internet.
[14] Kohn, Eric: Berlin Review. Terrence Malick’s “Knight of Cups” Pushes the Director’s Style to Its Limits, in: Indiewire, 8.2.2015, http://www.indiewire.com/article/berlin-review-terrence-malicks-knight-of-cups-pushes-the-directors-style-to-its-limits-20150208.
[15] Fujishima, Kenji: Berlinale Review. Knight of Cups, in: Slant Magazine, 8.2.2015, http://www.slantmagazine.com/house/article/berlinale-review-knight-of-cups.
[16] Ebd.
[17] Zeitchik, Internet.
[18] Barber, Internet. Siehe hierzu auch [3].
[19] Chang, Justin: Berlin Film Review. Knight of Cups, in: Variety, 8.2.2015, http://variety.com/2015/film/reviews/berlin-film-review-knight-of-cups-1201425546/.
[20] siehe Barber (Internet) und Maier (Internet).
[21] Kohn, Internet.
[22] Fujishima, Internet.
[23] Hornby, S. 131.
[24] McCarthy, Internet.
[25] Chang, Internet.
[26] Emerson, Ralph Waldo: Nature (1836), in: Ders.: Nature and Other Essays, Mineola 2009, S. 1-33, hier S. 2.
[27] vgl. Aristoteles: Metaphysik I, 3, http://classics.mit.edu/Aristotle/metaphysics.1.i.html.
[28] Chang, Internet.
[29] Zeitchik, Internet.

Szenenbilder Knight of Cups© Studiocanal GmbH Filmverleih.

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Es heißt ja immer so schön, man lerne fürs Leben und nicht für die Schule. Dennoch sind viele Bildungseinrichtungen ziemlich rigide in ihrer bürokratischen Struktur. Sechs Semester Zeit für den Bachelor-Abschluss, mit einer klar vorgegebenen Anzahl Semesterwochenstunden in bestimmten Bereichen. Da gilt es abzuwägen und auszuwählen, welches Seminar besucht werden muss und was zeitlich möglich ist. So verlief zumindest seinerzeit mein Bachelor-Studium, das nicht wirklich Raum zum Entdecken und zur Entfaltung bot. Und laut Amanda Wilders Texttafel zu Beginn ihrer Dokumentation Approaching the Elephant ging dies im Jahr 1901 den Anarchisten in Barcelona nicht ganz unähnlich.

Aus Protest gegen das Bildungsmodell, das Fabrikarbeiter produzieren sollte, gründeten sie eine so genannte “free school”, die sich der demokratischen Bildung verschrieb. Schüler sollten eine größere Entscheidungsfreiheit über die Organisation ihrer Schule und das eigene Lernen erhalten. Es obliegt den Kindern, zu entscheiden was sie wann und wo wie mit wem lernen möchten – falls sie überhaupt etwas lernen möchten. Gezwungen wird niemand zu nichts und Noten gibt es auch keine. 261 solcher Schulen gebe es weltweit, informiert Approaching the Elephant zu Beginn. Wilder begleitete in ihrem Film das erste Schuljahr der Teddy McArdle Free School, die zur 262. solchen Schule werden wollte.

Dabei kommt die Dokumentation sehr traditionell daher, im 4:3-Format und in Schwarzweiß gedreht, verzichtet sie auf ein Einordnen oder Talking Heads und beobachtet schlichtweg das Geschehen an der Teddy McArdle Free School. Das Ergebnis sieht dabei so aus, wie man es erwarten würde: an einen normalen Unterricht ist nicht zu denken. Aber eben das ist auch die Idee. Die Kinder reagieren auf ihre Freiheit in unterschiedlicher Form. Während der Querulant Jiovanni unentwegt seine Grenzen austestet, sind andere Kinder durchaus an Bildung interessiert. “I was thinking maybe we should do some classes”, schlägt beispielsweise die kleine Lucy an einer Stelle in Form eines Antrags vor.


Derartige Anträge sieht man im Verlauf des Films öfter. Klaut das eine Kind dem anderen seinen Platz und kriegt dafür eine ins Gesicht, wird ein Treffen anberaumt. Wer etwas sagen will, muss sich melden, Täter und Opfer schildern ihre Sicht der Dinge und Gefühle, die anderen können ihre Meinung zu dem Vorfall äußern. Nicht immer klappt dieses demokratische Selbstverständnis reibungslos. “Order, order, order”, appelliert Schulgründer Alex Khost an einer Stelle vergeblich. “Can I have everyone’s attention for five seconds?”, fragt er in einer anderen Szene. “No”, lautet die lapidare Antwort seiner Schüler. Aus der Demokratie kann so mal auch ganz schnell eine Anarchie werden.

Es sei nicht leicht, den Grundgedanken der freien Entfaltung mit traditionellen Bildungsmaßstäben zu verknüpfen, sagte Barbara Mergner vom Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien [1]. Auch in Approaching the Elephant zeigt sich dies. In Alex’ Werkunterricht dürfen die Kinder mit Sägen hantieren, was nicht jeden Grundschüler überzeugt. “I don’t think my parents would let me”, äußert Lucy Zweifel. Die Vorstellung, keiner erwachsenen Autorität zu unterstehen, sondern mit ihr auf Augenhöhe zu sein, gelingt manchen besser als anderen. Für die Anhänger von Reformpädagogik und demokratischer Bildung ist diese fehlende Kontrolle von oben entscheidend.

„Wenn Kinder sich nicht respektiert fühlen, dann lernen sie auch nicht“, sagte Wolfgang Harder, ehemaliger Rektor der berüchtigten Odenwaldschule und Gründer der Reformschulen-Initiative BÜZ einst im Interview mit der taz[2]. In Amanda Wilders Dokumentation sehen wir von tatsächlichem Lernen allerdings wenig bis nichts. Die meiste Zeit tollen die Kinder durch die Gänge ihrer Schule oder im Freien, gelegentlich bauen sie auch an einem Baumhaus im Inneren, wenn sie nicht gerade über Vorfälle abstimmen. Im Zentrum dieser Vorfälle steht dabei immer wieder Jiovanni, der insbesondere Alex Khost wiederholt mit wenig Respekt begegnet, auch mal den Mittelfinger gegenüber diesem zückt.


„Ich würde sagen, diese Schule ist geordnetes Chaos“, meinte die 15-jährige Camille gegenüber der Deutschen Welle. Seit sie fünf Jahre alt war ging Camille auf die Jenaplanschule in Jena, die in Deutschland zu den Einrichtungen mit demokratischer Bildung gehört [3]. Zugleich nannte Camille ihr Schulerlebnis „ein besseres Lernen, für die Persönlichkeit“[4]. Ähnliche Erfahrungen machten Schüler der Summerhill Schule im englischen Suffolk. “A small place but a big idea”, beschreibt Schriftsteller Hussein Lucas den Besuch dort [5]. Viele Jugendliche würden eine erstaunliche Selbstkompetenz lernen und im Vergleich zu Altersgenossen reifer und erwachsener daherkommen, so der Tenor.

Wer an seiner eigenen Bildung partizipieren darf oder besser gesagt soll, lernt sicher, verantwortungsvoller zu sein. Falls ein Interesse an Bildung besteht und die Freiheit (in Wilders Film stürmt ein Kind aus dem Raum und schreit “Freedom!”, ein anderes verabschiedet sich mit dem Satz “I’m going to go and have fun, okay?”) nicht zur Freizeit missbraucht wird. Die Frage ist, was die Jugendlichen, die so demokratisch in Entscheidungen miteinbezogen wurden, später im Leben machen. Wenn sie in einer Firma oder Ausbildung arbeiten, in denen ein Chef – oder mehrere – den Ton angeben und man mit Autorität konfrontiert wird, die man jahrelang in einer solchen Form nicht mehr kannte.

Welche Wege können diese Jugendlichen einschlagen? Die demokratische Schule Kapriole in Freiburg ist „als Grund-, Haupt- und Werkrealschule genehmigt“, heißt es auf der Homepage [6]. Will ein Jugendlicher einen solchen, in der Berufswelt üblichen, Abschluss machen, kann er dies tun. „Notorisch schwierig und langwierig“ sei die staatliche Anerkennung für Freie Schulen [7]. Dasselbe gilt naturgemäß für eigene Abschlüsse. Statt Leistungsdruck in viel zu großen Klassen von Regelschulen bestimmen die Kinder selbst, was sie lernen. „Gelernt wird wie im Vorbeigehen“, schreibt Anwen Roberts [8]. Zuerst müssten die Kinder aber „regelrecht ,entschult’ werden, bevor sie wieder richtig lernen könnten“[9].


Ähnlich sieht man das auch an der Teddy McArdle Free School. “They have to get all of this out of their systems”, meint ein Kollege von Alex Khost hinsichtlich der tobenden Kinder. Und Alex selbst mutmaßt, es könne 20 Jahre dauern, ehe man sieht, ob ihr Projekt erfolgreich verlaufen sei. Amanda Wilder selbst lässt sich in ihrer Dokumentation zu keinem Urteil hinreißen. Und überlässt dem Zuschauer eine Einschätzung. Zwei Jahre begleitete sie verschiedene Schultage an der Teddy McArdle Free School, repräsentativ ist der Film, der durchaus eine gewisse Dramaturgie entwickelt, für das tatsächliche erste Schuljahr somit nicht. Was eine Einschätzung des Publikums zum Free-School-Konzept nicht leichter macht.

Grundsätzlich kann eine Freie Schule durchaus funktionieren – was aber vermutlich abhängig von den Schülern ist, die sie besuchen. In Fällen wie Jiovanni scheint das Konzept verschenkt, während Kinder wie Lucy durchaus einen Reifeprozess in Approaching the Elephant erkennen lassen. Sie beruft auch mal eine Versammlung mit einem Vorwurf gegen Alex selbst ein, wenn sie glaubt, der behandele Jiovanni ungerecht. Dabei ist der Knabe ihr gegenüber nicht gerade der Netteste. Als die Mehrheit ihn dann zeitweise von der Schule suspendiert, ist es ebenfalls Lucy, die dies bedauert. Alles sei viel langweiliger ohne den egozentrischen Mitschüler, klagt das blonde Mädchen gegenüber Alex.

Eben weil Amanda Wilder auf das Instrument der Talking Heads verzichtet, erscheint eine Einordnung der Entwicklung der Kinder – von denen wir ohnehin nur Lucy und Jiovanni wirklich begleiten – wie man sie aus der Up-Serie kennt, kaum möglich. Eine fundierte Meinung zu Freien Schulen und demokratischer Bildung kann somit nicht gefällt werden. Zumindest ich selbst bin angesichts dessen, was Approaching the Elephant festhält, doch etwas skeptisch ob des Erfolgs eines derartigen Modells. Ohne dessen mögliche Qualitäten abstreiten zu wollen. Immerhin scheint etwas in Bezug auf die Freien Schulen dann aber wohl doch sicher: Dort lernen die Kinder fürs Leben und nicht für die Schule.


Quellenangaben:

[1] o.A.: Reformschulen kritisch gesehen, in: BR, 12.8.2014, www.br.de/themen/wissen/reformpaedagogik-kritik100.html.
[2] Füller, Christian: „Gute Schule ist machbar“. Reformschulen-Initiative „Blick übern Zaun“, in: taz.de, 20.05.2008, www.taz.de/!5181860/.
[3] Arnold, Ronny: Eine Schule zum Mitmachen, in: Deutsche Welle, 29.10.2012, www.dw.com/de/eine-schule-zum-mitmachen/a-16332018.
[4] ebd.
[5] Cassidy, Sarah: Summerhill alumni: “What we learnt at the school for scandal”, in: Independent, 22.10.2011, www.independent.co.uk/news/education/schools/summerhill-alumni-what-we-learnt-at-the-school-for-scandal-2373066.html.
[6] www.kapriole-freiburg.de/deutsch/vorträge/abschlussvariationen/.
[7] Roberts, Anwen: Schule mal ganz anders: „Wer will, kann zehn Jahre im Baum hocken“, in: Spiegel Online, 11.2.2010, www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/schule-mal-ganz-anders-wer-will-kann-zehn-jahre-im-baum-hocken-a-666948.html.
[8] ebd.
[9] ebd.

Szenenbilder “Approaching the Elephant”© Wilder Films. All Rights Reserved.

What happens in college, stays in college

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Wer sich als Amerikanerin für die Armee verpflichten lässt, geht das berufsbedingte Risiko ein, von einem seiner Kameraden vergewaltigt zu werden. Dieses Statement entlockte Regisseur Kirby Dick vor einigen Jahren in seiner Dokumentation The Invisible War, die sich mit den Vergewaltigungszahlen innerhalb der US-Truppen befasste. Wie sich nun in The Hunting Ground zeigt, hilft es jungen Amerikanerinnen aber auch keineswegs, der Armee fernzubleiben und dafür an die Hochschulen zu gehen. Denn auch dort wird jede Fünfte von ihnen in ihrem ersten Uni-Jahr zum Opfer eines sexuellen Übergriffs [1]. Somit eine ähnlich hohe Betroffenheit wie bei den weiblichen Soldaten in der Armee.

Auch sonst gleichen sich die Verhältnisse – bis hin zu Schweigen der Verantwortlichen und dem Schützen der Täter. “What happens in college, stays in college”, zitiert die Dokumentation zu Beginn einen Dekan in seiner Ansprache an die neuen Studenten. Und könnte wahrere Worte wohl nicht sprechen. “Two of us were sexually assaulted before classes even started”, berichtet Annie Clark von ihrem Besuch der University of North Carolina at Chapel Hill. Sie meldete den Vorfall – ohne Ergebnis. Sechs Jahre später sollte Kommilitonin Andrea Pino dasselbe Schicksal ereilen. Dass beide Frauen ihre Vergewaltigung meldeten, ist dabei eine Seltenheit. Fast neun von zehn Studentinnen tun dies derweil nicht.

“Rape is a scary word”, sagt Andrea Pino. “You don’t want to fall into a category.” Die ersten sechs Wochen zwischen Orientierung und der ersten Ferienunterbrechung gelten als so genannte “red zone”[2]. Der Zeitraum, in dem Studienanfänger am ehesten Gefahr laufen, sexuell missbraucht zu werden [3]. Die Mädchen befinden sich in einer neuen Umgebung, bauen ihre sozialen Kontakte gerade erst auf. Der Täter ist hier kein Unbekannter, sondern jemand aus dem Alltag. “It’s the people you do know you should be worried about”, sagt Autorin Danielle Dirks [4]. “The number of victims is endless”, beschreibt ein Täter, der in The Hunting Ground zu Wort kommt. Das Vorgehen ist dabei kalkuliert.


Alkohol spielt eine zentrale und doppelte Rolle. Da Studentinnenverbindungen keinen Alkohol ausschenken dürfen, erklärt eine befragte Frau in The Hunting Ground, müssen Studentinnen, wenn sie Alkohol konsumieren wollen, zu den Feiern ihrer männlichen Verbindungskollegen gehen. Dort wiederum würden die Getränke mit Drogen versetzt, welche die Frauen gefügiger machen sollen, wenn man sie in ein Hinterzimmer oder separaten Bereich bringt. “Rape is like a football game”, bekam Annie Clark von einer Universitätsangestellten gesagt, als sie dieser ihre Vergewaltigung meldete. Was hätte die junge Studienanfängerin selbst tun können, um dem Ereignis einen anderen Ausgang geben zu können?

Wie auch die Soldatinnen in The Invisible War berichten die vergewaltigten Studentinnen, dass ihnen Vorwürfe für ihre Übergriffe gemacht wurden. Waren sie zu aufreizend angezogen? Hatten sie zu viel Alkohol getrunken? Vermittelten sie den Eindruck, sie wollten mehr? Vorausgesetzt, die Hochschulverwaltung nimmt den Vorfall überhaupt für voll. “There was this extreme reluctance to believe me”, schildert Kamilah Washington ihr Erlebnis, nachdem sie und eine Freundin von einem Kommilitonen sexuell missbraucht wurden. “Just because a woman says ‚no‘ and you have sex automatically you’re a rapist?”, fragt ein Student ungläubig in einer Fernseh-Archivaufnahme bezeichnenderweise.

Ähnlich scheinen es die Hochschul-Verantwortlichen zu sehen, erstaunlicherweise selbst oft mit Frauen an der Spitze. Zum einen existiere der Wunsch, das Problem intern zu lösen, verrät eine leitende Angestellte. “It could be bad for everyone”, teilte die Harvard University einer Studentin mit, als sie eine Vergewaltigung melden wollte. Zu 135 sexuellen Übergriffen soll es in Harvard allein zwischen 2009 und 2013 gekommen sein – also 27 Vorfällen pro Jahr. Zehn mal sprach die Universität eine Suspendierung aus. Ebenso viele Übergriffe ereigneten sich an der University of North Carolina zwischen 2001 und 2013. Zu Exmatrikulationen kam es nie. Bestraft wurde mit eintägigen Suspendierungen oder $25 Strafe.


Die Vergewaltigung war schon schlimm, aber wie man danach behandelt wurde, war noch schlimmer – so würden es viele Betroffene laut Annie Clark schildern. Von Medien mit Vorwürfen konfrontiert vermelden die Elite-Hochschulen stets dasselbe: man nehme diese sehr ernst. Nur: Gehandelt wird in der Regel nie. Lediglich jede fünfte Vergewaltigung wird laut dem FBI juristisch verfolgt. Niemand will ein großes Aufheben machen, speziell wenn man bedenkt, wer in der Regel die Täter sind. Weniger als acht Prozent der Männer verüben über 90 Prozent der Übergriffe, heißt es in The Hunting Ground. Ein Großteil dieser Männer zählt zu den Hochschulathleten und/oder einer Studentenverbindung.

So wurde monatelang eine Ermittlung gegen einen Football-Spieler verschleppt, weil dieser das vielversprechendste Talent im College Football war. Genauso fällt es Universitäten schwer, gegen Studentenverbindungen vorzugehen, wo deren Alumni später mit Spenden für einen Großteil der Hochschulverwaltungskosten aufkommen. Wer will schon die Hand beißen, die einen füttert? Und sich öffentlich bloßstellen als Campus, auf dem sich Vergewaltigungen ereignet haben? Die Opfer werden diskreditiert oder zum Schweigen gebracht, schließlich sind sexuelle Übergriffe nicht neu, “it’s just that no one was talking about it” bis das Internet und Twitter daherkamen und eine Öffentlichkeit schafften [5].

Dabei sind Vergewaltigungen oder sexueller Missbrauch an Hochschulen sicherlich kein originär US-amerikanisches Problem. Basierend auf einer Befragung durch die Sozialwissenschaftlerin Katrin List gaben rund drei Prozent von deutschen Studentinnen an, ebenfalls Opfer sexueller Gewalt geworden zu sein – aus denselben Gründen wie in den USA [6]. Nur ist der Umgang mit solchen Vorfällen hierzulande ein anderer. Das Ausmaß der Diskreditierung der Opfer ist in den USA, basierend auf den in der Dokumentation abgebildeten Reaktionen, enorm. Als ob es eine Motivation für die Dutzende junger Frauen gebe, einen Kommilitonen fälschlicherweise einer Vergewaltigung zu beschuldigen [7].


Die schockierenden Tatsachen und Reaktionen sind dabei in The Hunting Ground so überzeugend wie bereits in The Invisible War. Hierin findet sich jedoch zugleich auch einer der Kritikpunkte: es wirkt letztlich so, als hätte Kirby Dick schlicht ein Remake seiner Vorgänger-Dokumentation in neuem Setting gedreht. Wir haben Talking Heads von Betroffenen – darunter nicht nur Frauen, sondern wie in The Invisible War ebenfalls auch Männer –, die ihre Vergewaltigung schildern und wie sie Hilfe suchten und als Querulant abgetan wurden. Es gibt eine Petition, irgendwann auch mal durch genug Aufmerksamkeit eine Reaktion aus Washington, am Ende sind beide Dokumentationen somit Schwesternfilme.

Man mag es Dick zu Gute halten, dass es verständlich erscheint, die Formel nicht zu ändern, die beim thematisch identischen Kollegen so gut funktionierte. Allzu originell ist es jedoch auch nicht. Immerhin endet The Hunting Ground etwas positiver. Fast 140 Universitäten müssen sich Ermittlungen bezüglicher sexueller Übergriffe stellen [8]– mit ein Verdienst von Annie Clark, Andrea Pino und Co. „Sie rufen inzwischen so laut, dass Politik und Gesellschaft nicht mehr weghören können“, schrieb Spiegel Online über den Aufstand der Opfer [9]. In der Hoffnung, dass sich auch tatsächlich etwas verändert. Und damit Harvards Werbe-Jingle (“Anything can happen”) in Zukunft möglichst positiv konnotiert bleibt.



Quellenangaben:

[1] Caspani, Maria: Rape on US university campuses reaches “epidemic” levels, in: Reuters, 22.5.2015, www.reuters.com/article/us-usa-women-rape-idUSKBN0O729820150522.
[2] Booth, Barbara: One of the most dangerous places for women in America, in: CNBC, 22.9.2015, www.cnbc.com/2015/09/22/college-rape-crisis-in-america-under-fire.html.
[3] ebd.
[4] “84 percent of the time the perpetrator is another student”, ebd.
[5] Sharp, Sonja: How campus rape became a national scandal, in: Vice, 14.5.2015, www.vice.com/read/how-campus-rape-became-a-national-scandal-513.
[6] Seifert. Leonie: „Viele Frauen denken, an der Uni passiert mir nichts“, in: Zeit Online, 12.6.2014, www.zeit.de/2014/25/sexuelle-belaestigung-universitaet-deutschland.
[7] siehe auch Sharp, Internet.
[8] siehe Booth, Internet.
[9] Lüpker-Narberhaus, Frauke: Vergewaltigung an US-Unis. „Unwillkommener physischer Kontakt“, in: Spiegel Online, 13.10.2014, www.spiegel.de/unispiegel/wunderbar/sofie-karaseks-kampf-gegen-vergewaltigung-auf-campus-a-994776.html.

Szenenbilder “The Hunting Ground” @ CNN Films. All Rights Reserved.

Blood and Biscuits Everywhere

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Der Mensch, so Aristoteles, ist ein zoon politikon. Ein soziales Lebewesen, das der Gesellschaft seiner Artgenossen bedarf. “If we can’t learn to live together, we’re gonna die alone”, propagierte auch Matthew Fox als Jack Shepherd in der TV-Serie Lost. Lange lebte das traditionelle Familienbild dabei fort, von Ehepartnern und Kindern. Doch inzwischen gibt es einen Wandel in der Gesellschaft. Nicht nur die Geburtenrate geht in Deutschland seit Jahren zurück, auch die Einpersonenhaushalte nehmen jährlich zu [1]. Rund 16,5 Millionen gibt es von ihnen, zieht man von den 80 Millionen Einwohnern Deutschlands die rund zehn Millionen Kinder bis 14 Jahren ab, lebt somit fast jede/r vierte Bürger/in alleine.

Dabei natürlich nicht unbedingt als Single – 4,4 Millionen Bürger geben sich als überzeugte Singles aus [2]–, aber dennoch scheint eine Rückkehr zum Mensch als Individuum voranzuschreiten. Das Für und Wider von Partnerschaft und Singledasein hat sich auch der griechische Auteur Yorgos Lanthimos für seinen jüngsten Film The Lobster zum Thema gemacht. In diesem steht die partnerschaftliche Gemeinschaft in der Gesellschaft über allem. Zugleich lotet Lanthimos aus, welches Verständnis von Partnerschaft das menschliche Denken bestimmt – und dabei einschränkt. Wie in seinen Vorgängern Kynodontas und Alpeis verpackt er seine soziale Metapher in ein absurd-komisches Gewand.

Bereits der Beginn des Films ist charakteristisch, wenn eine namenlose Frau durch die Landschaft fährt, um schließlich auf einer Wiese zu halten, auszusteigen und einen Esel mit mehreren Schüssen niederzustrecken. Lanthimos hält sich in The Lobster nicht mit Zusammenhängen auf, der Kontext des Films erschließt sich dem Zuschauer in seinem Verlauf. Das Publikum wird also direkt in Lanthimos’ Zukunftsszenario geworfen, in welchem der Bierbäuchige Architekt David (Colin Farrell) von seiner Frau für einen anderen Mann verlassen wird. “Does he wear glasses or contact lenses?”, will der Brillenträger von seiner verflossenen Gattin wissen. Um kurz darauf mit seinem Hund Bob in ein Hotel überführt zu werden.


In jenes an der Küste gelegene Hotel müssen all die einchecken, die Single sind. Dort haben sie 45 Tage Zeit, um sich unter den Gästen einen neuen Partner zu suchen. Finden sie keinen, werden sie in ein Tier ihrer Wahl verwandelt und im benachbarten Wald ausgesetzt. Als solches, so die Hotelmanagerin (Olivia Colman), ließe sich dann immer noch ein Partner finden. Aber auch, wenn das Hotel mit seinen Sport- und Schwimmanlagen wie ein gemütliches Spa wirkt, hat es mehr den Charakter eines Gefängnisses. Bei der Ankunft müssen die Gäste sich hinter einer weißen Linie ausziehen und werden mit neuen, uniformen, Kleidern ausgestattet. Zugleich gilt es für sie, die verschiedenen Regeln zu folgen.

Grundsätzlich betrachtet ist das Fundament der Sozialmetapher von The Lobster also ein Überlebensdrama. Blickte David am einen Tag noch seinem 12. Ehejahr entgegen, bleiben ihm am nächsten nur sechs Wochen, um für seine menschliche Existenz zu kämpfen. Hierbei wählen die Hotelgäste unterschiedliche Herangehensweisen. David fokussiert sich zuerst auf eine junge Frau (Jessica Barden), die unter Nasenbluten leidet. Sie hat jedoch auch sein Bekannter, John (Ben Whishaw), ins Auge gefasst. Schon etwas verzweifelter gibt sich eine Frau mittleren Alters (Ashley Jensen) mit Faible für Butterkekse, während eine emotionslose Dame (Angeliki Papoulia) sich mit dem Hotel arrangiert hat.

In regelmäßigen Abständen werden die Hotelgäste in den Wald geschickt, um dort mit Betäubungsgewehren die darin hausenden Singles zu jagen. Wer sich erfolgreich zeigt, bekommt eine Verlängerung seiner Frist – im Falle der kaltherzigen Frau kann diese auf ein halbes Jahr anwachsen. Entsprechend wenig Engagement und Not legt sie an den Tag, um einen Partner zu finden. Nicht alle Gäste zeigen jedoch derartiges Jagdtalent, darunter auch ein lispelnder Gast (John C. Reilly), der nicht vom Masturbieren lassen kann, obschon es untersagt ist. Bereits im Hotel präsentiert Lanthimos ein Partnerschaftsverständnis, wie es in der Gesellschaft nicht selten ist: Beziehungen bauen auf Ähnlichkeiten auf.


So bezeichnet John sein Hinken als “my defining characteristic”. Auch seine vor einer Woche verstorbene Frau hinkte und er wird von David mit Bedauern bedacht, als sich ein Hinken einer später neu zum Hotel hinzustoßenden Dame lediglich auf einen verstauchten Knöchel zurückführen lässt. Letztlich täuscht John ein Nasenbluten vor, um mit dieser Gemeinsamkeit den Schwarm von David für sich zu gewinnen. Nicht zuletzt wohl auch deswegen, weil er sich der Folgen einer gescheiterten Partnersuche bewusst ist. Als sein Vater einst seine Mutter verstieß – für jemand, der besser in Mathematik war – und diese im Hotel niemanden fand, erwartete sie ein Schicksal als Wolf und ein Dasein im Zoo.

Auch David weiß um die Hotel-Konsequenzen, ist sein Hund Bob doch eigentlich sein Bruder, der bei seinem eigenen Hotelbesuch vor einigen Jahren ebenfalls erfolglos blieb. David selbst hat für sich ein Leben als Hummer auserkoren, sollte seine Partnersuche scheitern. Die Tiere würden bis zu 100 Jahre alt und blieben ihr ganzes Leben lang fruchtbar – so seine Begründung. Doch Davids Versuche zum Anbandeln verlaufen nicht einwandfrei und so muss er zur Mitte des Films hin die Flucht in den Wald ergreifen. Lanthimos wechselt somit die Szenerie – nicht aber die Thematik. Denn im Wald, so erfährt David von der Anführerin der Einsamen (Léa Seydoux), existieren wie sich zeigt ähnliche Regeln wie im Hotel.

Wo dieses Partnerschaften befürwortet, sind sie unter den Einsamen verboten. Selbst Flirten kann zu schmerzvollen Strafen führen, die Welt des Waldes ist somit ein verkehrtes Bild des Hotels. Gemeinsam einsam lautet das Motto. “You can be a loner until the day you die”, klärt die Anführerin David auf. “There is no time limit.” Zugleich gewinnt sie David für eine Rebellion mit einem Helfer (Michael Smiley) und einer kurzsichtigen Frau (Rachel Weisz) gegen das Hotel. Und während dies geschieht, nähern sich die Figuren von Farrell und Weisz an – natürlich basierend auf ihrer gemeinsamen Kurzsichtigkeit. Im Universum von Lanthimos’ The Lobster haben nur die eine Zukunft, die Charakteristika teilen.


Das gilt für das Große wie das Kleine. In der Gesellschaft – oder der Stadt – kann nur leben, wer sich der partnerschaftlichen Gemeinschaft verschreibt. Wie auch die Einsamen im Wald strikte Regeln haben, die sie ihren Mitgliedern auferlegen. Beispielsweise die regelmäßigen Tanzabende, in denen jeder dann mit einem Discman Musik hört. “We all dance by ourselves”, klärt Léa Seydouxs Figur Neuankömmling David auf. “That’s why we only play electronic music.” Die Einsamen pflegen ihre Freiheit, allein zu sein; auch wenn viele Mitglieder wie David im Hotel womöglich in einer Aufführung der Angestellten in überstilisierter Form gesehen haben, welche Folgen eine solche Entscheidung haben kann.

Mit dem Wechsel in den Wald baut The Lobster allerdings zugleich qualitativ etwas ab. Welche Ziele Seydoux’ Figur bezweckt, werden nicht wirklich klar. Genauso, was es mit ihren Ausflügen in die Stadt zu ihren Eltern auf sich hat, zu denen sie ihre Mitstreiter stets mitbringt. Immerhin bieten die Besuche den Figuren von Farrell und Weisz die Chance, ihre heimlichen romantischen Gefühle füreinander unter dem Deckmantel einer falschen Identität auszuleben. Was im Verlauf – wie so vieles in Lanthimos’ Film – absurde Züge annimmt. “We have to be totally synchronized”, appelliert David später an seine Liebste. Und reagiert eifersüchtig, als diese Kontakt mit einem anderen kurzsichtigen Mann hat.

Die Botschaft des Films ist, dass Menschen ihre Beziehungen zueinander auf Gemeinsamkeiten aufbauen. Lanthimos karikiert dabei das traditionelle Familienbild als Ganzes. “If you encounter any problems, any tensions, any arguments that you cannot resolve yourselves you’ll be assigned children. That usually helps”, gibt die Hotelmanagerin einem frischgekürten Paar Ende des ersten Akts mit auf den Weg. Liebe ist im Kosmos von The Lobster zweitrangig – etwas, das sich selbst auf Davids Beziehung zu Bob anwenden ließe. Empfindet er für diesen aufrichtig Liebe oder resultieren seine Gefühle aus der Gemeinsamkeit, dieselben Eltern (und womöglich Eigenschaften) besessen zu haben?


Das Thema von The Lobster steht dabei letzten Endes über seinen Figuren. Diese bleiben für uns laufende Charaktereigenschaften, ohne dass der Zuschauer wirklich Einblick in eine von ihnen erhält. So suggeriert zumindest eine Entscheidung der Einsamen-Anführer gegen Ende, dass sie vielleicht selbst Gefühle für David entwickelt hat. Ähnliches könnte man mutmaßen, wenn es um eine der Hotel-Angestellten (Ariane Labed) geht. Nicht jeder Zusammenhang wird klar, außer dass Beziehungen zwischen Mensch und Tier (Seydoux’ Figur sucht in einer Szene Kontakt zu einem Schwein) wohl eine tiefere emotionale Bedeutung haben, siehe David und Bob oder die Eselsmörderin zu Beginn.

Yorgos Lanthimos verpackt seinen Sozialkommentar wie schon in seinen früheren Filmen erneut in ein schwarzhumoriges, absurdes Kleid. The Lobster ist ein Film, der immer wieder zum Lachen einlädt, gerade wenn er selbst seinen Figuren eine Bühne bietet. Wunderbar fotografiert und liebevoll inszeniert (vereinzelt bahnen sich im Bildhintergrund Flamingos oder Kamele ihren Weg durch den Wald), gelingt es dem starken Ensemble um den eindrucksvollen Colin Farrell, ihre skizzenhaften Charaktere mit Leben zu füllen. Besonders die Lanthimos-Veteraninnen Papoulia und Labed stechen heraus, aber auch Ashley Jensens tragische Figur bleibt einem nach Sichtung des Filmes in Erinnerung.

Am nachhaltigsten wirken jedoch die Ideen und Themeninterpretationen von The Lobster, in dem sich Lanthimos wieder mal bemühte, originell zu sein. Was man in den heutigen Zeiten von filmischer Konformität ohnehin nicht hoch genug schätzen kann. Vielleicht mit zwei Stunden einen Tick zu lang und an der ein oder anderen Stelle etwas zu kryptisch geraten, ist dem Griechen nichtsdestotrotz ein filmisches Meisterwerk gelungen, das nach vielen Wiederholungssichtungen verlangt und diese zugleich belohnt. Am Schluss wartet trotz aller Strapazen – in gewisser Weise – ein Happy End, getreu den Worten von Bob Marley: “Truth is, everybody is going to hurt you: you just gotta find the ones worth suffering for.”


Quellenangaben:

[1] vgl. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/156951/umfrage/anzahl-der-einpersonenhaushalte-in-deutschland-seit-1991/.
[2] vgl. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/173640/umfrage/lebenseinstellung---single-aus-ueberzeugung/.

Szenenbilder “The Lobster”© Sony Pictures Home Entertainment. All Rights Reserved.

One of a kind

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“Happiness in marriage is entirely a matter of chance”, legte Jane Austen im sechsten Kapitel ihres Romans Pride and Prejudice ihrer Figur Charlotte Lucas in den Mund. Worte, die vielen türkischen verheirateten jungen Frauen sicher wenig Trost schenken, sind laut einer Forschungsstudie doch 82 Prozent von ihnen des Lesens gar nicht mächtig [1]. Was nicht einmal so wenig sind. Geht es um Kinderehen, ist die Türkei in Europa vorne mit dabei: 14 Prozent der Mädchen, also etwa jede siebte junge Türkin, wird verheiratet bevor sie 18 Jahre alt ist [2]. Jede dritte Ehe in der Türkei wird mit minderjährigen Mädchen geschlossen [3], geschätzt machen sie über 180.000 Bräute aus [4]. Ein Thema, dem sich auch die Regisseurin Deniz Gamze Ergüven in ihrem Regie-Debüt Mustang gewidmet hat.

Das berichtet von fünf Schwestern, die nach dem Tod ihrer Eltern im Haus ihres Onkels Erol (Ayberk Pekcan) und ihrer Großmutter (Nihal Koldaş) aufwachsen. Das Wetter wird ihnen eines Tages zum Verhängnis, als sie aufgrund der Hitze beschließen, nach der Schule am Strand heimzulaufen statt den Bus zu nehmen. In Begleitung einer Gruppe Jungen tollen sie anschließend im Meer herum. “One moment we were fine, then everything turned to shit”, verrät uns eine von ihnen. Eine Nachbarin hat die Mädchen beobachtet und an die Großmutter verpetzt. Das ganze Dorf zerreiße sich das Maul ob des pervertierten Verhaltens der Mädchen. Diese werden von Erol schließlich unter Hausarrest gestellt und nach weiteren Fehltritten das Anwesen letztlich vergittert und zum Gefängnis umgewandelt.


“Everyone’s talking about your obscene behavior”, wirft die Großmutter ihren Enkelinnen vor. Die verstehen all den Aufruhr nicht, haben aber die Rechnung nicht mit dem traditionell-patriarchalischen Gedankengut der türkischen Gesellschaft gemacht [5]. Fortan müssen sich die Schwestern züchtiger kleiden und das Einmaleins des Kochens lernen. “The house became a wife factory”, greift da eines der Mädchen Ende des ersten Akts etwas Voraus. Im Zuge der Erziehung wird zugleich die Schulbildung auf Eis gelegt, was Gang und Gebe ist, wenn es um minderjährige Ehen in der Türkei geht [6]. Primär auf sich allein gestellt, suchen die Mädchen um die Jüngste, Lale (Güneş Şensoy), jede Gelegenheit, um zumindest zeitweise aus dem „Gefängnis“ ihres Onkels ausbrechen zu können.

Beispielsweise als wegen Fan-Ausschreitungen ein Fußballspiel nur für weibliche Besucher zugelassen wird. Eine sinnbildliche Szene für die Diskrepanz zwischen den Geschlechtern, das eine aggressiv und rückständig, das andere jovial und friedliebend. Am ehesten und idealsten, zumindest in den Augen von Onkel und Großmutter, können die Mädchen dem „Gefängnis“ entgehen, indem sie sich dem patriarchalischen Bild fügen. Vielleicht einerseits wegen des bereits schon vorbelasteten Rufs – in einer Szene werden die ältesten Mädchen im Krankenhaus auf ihre Jungfräulichkeit untersucht –, aber auch, um weniger Mäuler zu stopfen, strebt Erol an, die Älteste, Sonay (İlayda Akdoğan) zu vermählen. Letzteres ist in Sachen Kinderehen kein unüblicher Beweggrund [7].


Laut der türkischen Soziologin Yıldız Ecevit sei eine unverheiratete Tochter im heiratsfähigen Alter für deren Eltern auch “a failure when they face society”[8]. So stellten im Jahr 2012 rund 200.000 Eltern einen Antrag, um ihre unter 16 Jahre alten Töchter zu verheiraten [9]. Die Interessen der Familie beziehungsweise des Vaters stehen dabei über denen der Töchter und Frauen. “Women aren’t viewed to be valuable in society”, resümiert Ecevit [10]. Entsprechend seien laut der Soziologin gerade in Zentralanatolien Eheschließungen mit Minderjährigen keine Seltenheit [11]. Eher Glück im Unglück hat Sonay in Ergüvens Mustang da, dass sie bereits in einen Jungen aus ihrer Schule verliebt ist. “One of a kind”, hatte die Oma sie zuvor noch einer interessierten Familie feilgeboten. Und muss nun umdenken.

Während Sonay also ihren Liebsten heiraten darf, wird die zweitälteste Tochter Selma (Tugba Sunguroglu) zur zweiten Ware. “One of kind”, verspricht die Oma erneut und während sowohl Selma als auch ihr designierter Angetrauter verloren in den Raum blicken, schwärmen die beiden Familien davon, wie interessiert die Kinder aneinander seien. Deren Wünsche, insofern sie sich nicht weitestgehend wie im Fall von Sonay mit denen der Erzieher decken, stehen hinter den Interessen der Erwachsenen zurück. Auch sie selbst sei einst verheiratet worden, so die Großmutter, und habe lernen müssen, ihren Ehemann zu lieben. Kontrastiert wird diese Vorfreude, wenn Sonay auf ihrer Hochzeit glücklich ist, während Selma derweil die Tische nach Alkoholresten in Gläsern abgrast.


Das Spiel geht anschließend mit der Drittältesten, Ece (Elit Iscan), weiter. Zuerst zwar gefügig, reagiert sie mit der Zeit immer subversiver – allerdings nicht mit dem gewünschten Erfolg. Wenn schon keine Schulbildung, so lernt Lale doch aus den Erfahrungen ihrer drei ältesten Schwestern quasi in der Schule des Lebens. Und beschließt für sich und die Viertälteste, Nur (Doğa Doğuşlu), eine Kurskorrektur, während Nurs Hochzeitsvorbereitungen bereits laufen. Insofern ist Lale, obschon die jüngste Figur in der Geschichte von Ergüven und ihrer Drehbuchpartnerin Alice Winocour – oder gerade deswegen? –, doch diejenige, die am meisten im Verlauf von Mustang wachsen kann. Die noch zu jung ist, sich der Tradition zu fügen und sich vehement an ihre Emanzipation klammert.

Lale ist es auch, die eingangs den Abschied einer Lehrerin am meisten bedauert. Wohl auch, weil diese als gebildete und arbeitstätige Frau vielleicht das einzige Rollenvorbild für das Mädchen darstellt. “An increase in women’s employment will decrease the tendency to marry early especially in poor families”, ist die Soziologin Yıldız Ecevit überzeugt [12]. Wirkliche Unterstützung in ihrem Wunsch nach Selbstständigkeit erfährt Lale im Verlauf nur noch von dem nachgiebigen, passender Weise homosexuellen, Kraftfahrer Yasin (Burak Yigit). Sie ist es, die noch Hoffnung verspürt und versprüht, wo Nur bereits aufgegeben zu haben scheint. Insofern ist sie – mit Abstrichen auch Sonay, die das beste aus ihrer Lage macht, und in gewissem Sinne Ece – die einzige Schwester, die pro-aktiv agiert.


Wenn Kathrin Horster von Protagonistinnen spricht, die „niemals zu passiven, bemitleidenswerten Opfern stilisiert“ werden [13], ist das jedoch nur bedingt richtig. Bis auf Lale agieren auch die anderen primär passiv, speziell Selma bleibt dabei in ihrer Situation ein bemitleidenswertes Opfer. Und auch wenn Horster findet, Mustang falle nicht in „die Schublade Problemkino“[14], so nimmt der Film in seiner zweiten Hälfte doch einen weitestgehend klaren Verlauf entsprechend der Stereotype. Wo Erol und seine Mutter zumindest im ersten Akt noch etwas Motivation für ihr Handeln erhalten, geraten sie in der zweiten Hälfte zuvorderst zu eindimensionalen Gegenspielern. Taucht die Großmutter irgendwann ganz ab, führt Ergüven später sogar noch eine Inzest- und Missbrauchsthematik ein.

Schändlich, aggressiv und französisch sei der Film laut der in Frankreich lebenden Regisseurin nach einer Kritik der türkischen Zeitung Zaman[15]. Und zugegebenermaßen streift Mustang sein Thema lediglich, anstatt sich – wie es wohl ein wirklich französischer Film, man denke an Asghar Farhadis Le passé, tun würde – näher mit diesem zu beschäftigen. Speziell Ece und Nur bleiben als Personen Randerscheinungen, das Eheleben von Sonay und Selma wird jenseits ihrer Vermählung nicht mehr eingehender angerissen oder gegenübergestellt. David Parkinson hat somit nicht ganz Unrecht, wenn er meint, Ergüvens Film “seeks to alert Western arthouse audiences to the issue by arousing liberal ire rather than exploring the socio-cultural issues in any great depth”[16].


Offen bleibt dabei beispielsweise auch die Frage, wieso Erol unverheiratet ist. Nicht unwahrscheinlich, dass sich das Dorf nicht minder das Maul darüber zerreißen würde, warum ein angesehener Mann wie er keine Frau findet. Und obschon die Großmutter eingangs noch mit biografischen Details aufwartet, verblasst sie im Verlauf immer mehr. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Thema Minderjährigen-Ehen und der Rolle von Frauen und Mädchen in der Türkei scheint Ergüven nicht zu suchen. Zwar dient die Problematik durchaus als sinnige und tragfähige Basis für die Geschichte, über das Fundament geht sie allerdings nicht hinaus. Ein Makel, der einen ansonsten exzellent von Laien gespielten und schön fotografierten nur zu einem sehr guten statt herausragenden Film macht.

Deniz Gamze Ergüven wollte mit ihrem Film „dieses permanente Sexualisieren von Allem anprangern“[17]– das ist ihr durchaus gelungen. Das Schicksal der fünf Schwestern, durch eine relative Nichtigkeit verändert, ist zum einen bedrückend, aber durch die warme und aus der Beziehung der Schwestern einhergehende optimistische Inszenierung nicht zu depressiv. Der Regisseurin gelingt, die angesprochene fehlende Tiefe außen vor, somit in ihrem Debüt eine überzeugende Mischung aus Coming of Age und Gesellschaftskritik zugleich. Aller Tragik zum Trotz kann Mustang dabei nur auf einer positiven Note enden, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für minderjährige türkische Mädchen. Damit Glückseligkeit in der Ehe nichts sein muss, was durch den Zufall bestimmt wird.


Quellenangaben:

[1] vgl. o.A.: One in Three a Child Marriage in Turkey, in: NSNBC International, 14.10.2013, http://nsnbc.me/2013/10/14/one-three-child-marriage-turkey/.
[2] vgl. o.A.: Child marriages around the world: Turkey, in: Girls Not Brides, o.J., http://www.girlsnotbrides.org/child-marriage/turkey/.
[3] vgl. o.A.: Türkei: Ein Drittel aller Ehen sind Kinderehen, in Europe News, 14.12.2015, https://de.europenews.dk/Tuerkei-Ein-Drittel-aller-Ehen-sind-Kinderehen-124109.html.
[4] Genauer: 181.036, s. ebd.
[5] ebd.
[6] 97,4 Prozent aller Schüler, die ihre Ausbildung nicht fortsetzten, weil sie heiraten, sind weiblich, s. ebd.
[7] vgl. o.A.: Reasons behind early and forced marriages, in: Early and forced marriage in Turkey, 2012, http://www.girlsnotbrides.org/wp-content/uploads/2012/12/Flying-Broom-Flying-News-publication-on-Early-and-Forced-Marriage.pdf, S. 26.
[8] Doğan, Selen: “This is basically a problem of women’s independence”, in: Early and forced marriage in Turkey, 2012, http://www.girlsnotbrides.org/wp-content/uploads/2012/12/Flying-Broom-Flying-News-publication-on-Early-and-Forced-Marriage.pdf, S. 21-25, hier S. 21.
[9] vgl. Europe News.
[10] vgl. Doğan, S. 21.
[11] ebd., S. 23.
[12] ebd., S. 22.
[13] vgl. Horster, Kathrin: Frecher Widerspruch, in: Stuttgarter Zeitung, 25.2.2016, http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.oscar-reifer-film-aus-der-tuerkei-mustang-frecher-widerspruch.6fa295df-90ee-4ced-9870-7271a2f605d4.html.
[14] ebd.
[15] vgl. Taszman, Jörg: "Mustang"– starkes Debüt von Deniz Gamze Ergüven, in: Deutschlandradio Kultur, 22.2.2016, http://www.deutschlandradiokultur.de/mustang-starkes-debuet-von-deniz-gamze-ergueven-die-oscar.1013.de.html?dram:article_id=346439.
[16] vgl. Parkinson, David: Mustang review, in: Empire, 13.5.2016, http://www.empireonline.com/movies/mustang/review/.
[17] vgl. Demmerle, Denis: Ergüven: „Die politische Rhetorik hat sich seit 2013 deutlich radikalisiert“, in: Berliner Filmfestivals, 28.2.2016, http://berliner-filmfestivals.de/2016/02/interview-mit-regisseurin-deniz-gamze-ergueven-zu-mustang.

Szenenbilder “Mustang”© Weltkino Filmverleih. Alle Rechte vorbehalten.

What is your position?

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In ihrem Sonett The New Colossus schrieb Emma Lazarus: “Give me your tired, your poor, your huddled masses yearning to breathe free.” Eine Aufforderung, die seinerzeit auch in die Freiheitsstatue in New York City imprägniert wurde. Sie war es, welche die zahlreichen Immigranten aus Europa in früheren Zeiten in der neuen Welt willkommen hieß. Willkommen in einer neuen Zukunft, einem zweiten Anfang, von dem sich die Millionen Einwanderer ein besseres Leben versprachen. Im Mittelmeer gibt es keine Freiheitsstatue mit einer Willkommensinschrift für die zahlreichen Immigranten, die von Afrika kommend ein besseres Leben in Europa suchen. An symbolischen Bildern fehlt es deswegen jedoch keineswegs.

Am Rande Lampedusas türmen sich die Wracks gekenterter Flüchtlingsschiffe wie ein Mahnmal, schreibt Sonja Gillert [1]. Lampedusa ist über die Jahre „zum Symbol für das Elend der Flüchtlinge Afrikas geworden“[2]. Mit am eindringlichsten wohl wegen einer Katastrophe, die sich am 3. Oktober 2013 ereignet hat. Über 100 Flüchtlings ertranken, als ihr Boot im Mittelmeer kenterte [3]. Bereits ein paar Tage zuvor war knapp ein Dutzend Menschen bei einem ähnlichen Versuch ums Leben gekommen [4], etwas mehr als eine Woche später sollten nochmals über zwei Dutzend Menschen ertrinken, darunter auch Kinder [5]. Ein Vorfall, den die Dokumentation Fuocoammare (dt. Seefeuer) festhält.


Es ist Nacht, als ein Funkspruch die Behörden Lampedusas erreicht. Flüchtlinge funken von ihrem Boot, dass dieses gekentert sei und sinke. Hilfe werde benötigt, immer wieder wird in brüchigem Englisch auf die Anwesenheit von Frauen und Kindern verwiesen. In der Hoffnung, so die Behörden zum Ausrücken zu bewegen. “What is your position?”, fragt der Funker wiederholt, um die Koordinaten des Bootes zu erhalten. Doch die Frage verhallt wie ein Echo in dem Anflug der Rettungsanfrage. Mit einem Scheinwerfer sucht ein Helikopter das Meer in der Dunkelheit ab. Einen Monat verbrachte Gianfranco Rosi auf dem Marineschiff Cigala Fulgosi, im Frühjahr gewann er auf der Berlinale den Goldenen Bären.

Für den Italiener war es wichtig, das Leben und den Alltag auf Lampedusa zu zeigen, jenseits der Medienwelle, die mit den gekenterten Flüchtlingsbooten auf die Insel schwappt. „Als ich dort lebte, verstand ich, dass der Begriff Katastrophe bedeutungslos war“, schildert Gianfranco Rosi. „Es gab jeden Tag eine Katastrophe. Jeden Tag passierte etwas.“ Und dennoch landet Lampedusa nur dann in den Nachrichten, wenn sich wieder mal vor ihrer Küste ein Drama abspielte. Und davon gab es in den vergangenen Jahren nicht wenige. Allein zwischen Januar und September 2014 gaben 165.000 Menschen „ihr Schicksal in die Hände von Schleppern und versuchten das Mittelmeer zu überqueren“[6].


Nicht alle schafften es, rund 3.000 Flüchtlinge verloren in jenem Zeitraum ihr Leben [7]. Auch 2015 starben allein zwischen Januar und April etwa 1.600 Menschen beim Versuch, von Libyen aus Lampedusa zu erreichen [8]. Die Zahlen des Flüchtlingszustroms steigen seit über zehn Jahren [9], zeitweise lebten auf Lampedusa mit seinen zwei Auffanglagern mehr Flüchtlings als Einwohner [10], [11]. Dabei ist die Insel mit ihren 20 Quadratkilometern nur etwa so groß wie Amrum oder Langeoog [12], als erster Anlaufpunkt ist sie für die Flüchtlinge auf ihren Booten dennoch unabdingbar. Gut 130 Kilometer von Tunesien entfernt liegt Lampedusa immerhin näher an Afrika als Sizilien (205 Kilometer) [13].

Zahlen, für die sich Gianfranco Rosi nicht wirklich interessiert. Fuocoammare ist keine Dokumentation mit Fakten, sondern mit Eindrücken. Dabei einerseits an Bord der Cigala Fulgosi und bei Rettungsoperationen wie Mare Nostrum, wenn Flüchtlinge – lebend wie tote – von ihren Booten geborgen, untersucht und ärztlich betreut werden. Gleichzeitig widmet sich Rosi jedoch auch dem anderen Alltag auf Lampedusa: dem der Einwohner. So wie dem zwölf Jahre alten Fischerssohn Samuele, der mit einer Steinschleuder bewaffnet über die Insel tollt, wenn er nicht versucht, sich mit dem Seegang anzufreunden. Auch ein lokaler Radio-DJ ist einer von Rosis Protagonisten, genauso der Arzt Pietro Bartolo.


Immer wieder wechseln sich die Bilder ab, vom Drama auf See hin zum Pragmatismus an Land. Während seine afrikanischen Altersgenossen um ihr Überleben kämpfen, muss sich Samuele mit einem trägen Auge auseinandersetzen. Die Fischer der Insel hadern derweil mit ihrer Fangquote, ihre weiblichen Angehörigen schicken daher immer wieder aufmunternde Lieder über die lokale Radio-Station. Von dem Schicksal der Flüchtlinge, so scheint es, kriegen sie nur am Rande etwas mit. Oder haben sich mit der Zeit einfach an dieses gewöhnt. Als eine neuerliche Katastrophe in den Nachrichten vermeldet wird, seufzt eine ältere Frau nur kurz beim Kochen und spricht ihr Mitleid aus.

Für uns ist das Drama auf Lampedusa nur präsent, wenn wieder mal ein Unglück passiert. Für die Einwohner der Insel ist es allgegenwärtig – und damit womöglich Gewohnheit. Zwar sympathisieren sie „mit den Flüchtlingen, doch wächst zugleich der Ärger“[14]. Auf ihre Kosten wird sich den Flüchtlingen gewidmet. Für die gebe es Geld, während die eigenen Schulen verfallen, der Müll nicht entsorgt wird [15]. Es fehlt an Bibliotheken, einem Krankenhaus. „Die Infrastruktur ist sehr schlecht“, schreibt Gillert [16]. Und das Versagen mit dem Umgang der Flüchtlingskrise schlägt sich zugleich negativ auf das Geschäft mit den Touristen nieder [17]. „Das Leben auf der Insel“, so Gillert, „ist nicht einfach.“[18]


Kritik von Seiten der Bewohner kommt in Fuocoammare jedoch keine auf. Abgesehen von Bartolo wirkt keine der Figuren wirklich beeinflusst von der Flüchtlingslage. Vielmehr präsentiert uns Rosi eine andere Sicht auf Lampedusa als die, die wir durch die Nachrichtensituation gewohnt sind. Hier gibt es auch ein Leben abseits der Flüchtlinge, obschon diese inzwischen zur Insel dazugehören. So ist der Friedhof der Insel bereits „längst überfüllt durch die oft namenlosen Flüchtlinge“, die bei früheren Katastrophen ihr Leben verloren [19]. Während diese Namenlosen auf der Cigala Fulgosi mit Dehydrierung kämpfen, versucht sich Samuele auf Ruderbooten derweil seine Seekrankheit abzugewöhnen.

Rosi gelingt es, das nicht alltägliche Drama mit dem nichtdramatischen Alltag zu verknüpfen und dem Zuschauer den Blick auf Lampedusa in teils unwahrscheinlich nahen und bisweilen bestechend schönen Aufnahmen zu erweitern. Auch losgelöst von seiner aktuellen zeitgeschichtlichen Bedeutung ist die Auszeichnung bei der Berlinale somit durchaus verdient gewesen, steht Fuocoammare in gewisser Weise für sich. Und selbst wenn auf dem Weg zu Lampedusa keine Freiheitsstatue die Flüchtlinge aus Afrika begrüßt, versprechen sie sich durch die Ankunft auf der Insel doch allesamt den Status der Freiheit. Getreu der Jazz-Legende Miles Davis: “Always look ahead, but never look back.”



Quellenangaben:

[1] Gillert, Sonja: „Schau mal, das Meer, da lebt jetzt meine Mutter“, in: Die Welt, 3.10.2014, http://www.welt.de/politik/ausland/article132889175/Schau-mal-das-Meer-da-lebt-jetzt-meine-Mutter.html.
[2] ebd.
[3] vgl. Schlamp, Hans-Jürgen: Flüchtlingsdrama vor Lampedusa. Europas Versagen, in: Spiegel Online, 3.10.2013, http://www.spiegel.de/politik/ausland/lampedusa-mehr-als-hundert-fluechtlinge-sterben-schiffsunglueck-a-925999.html.
[4] ebd.
[5] vgl. o.A.: Unglück im Mittelmeer. Viele Tote bei neuer Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa, in: Spiegel Online, 11.10.2013, http://www.spiegel.de/panorama/lampedusa-erneut-boot-mit-200-fluechtlingen-gekentert-a-927455.html.
[6] Gillert, Internet.
[7] ebd.
[8] o.A.: Lampedusa, in: Wikipedia, o.J., https://en.wikipedia.org/wiki/Lampedusa.
[9] „2003 wurden 8.000 Flüchtlinge registriert, 2004 schon 13.000 und 2005 verzeichnete man über 20.000 illegale Einwanderer auf der Insel“, o.A.: Lampedusa, in: Wikipedia, o.J., https://de.wikipedia.org/wiki/Lampedusa.
[10] ebd.
[11] Kirby, Emma Jane: Why tourists are shunning a beautiful Italian island, in: BBC News, 13.2.2016, http://www.bbc.com/news/magazine-35540017.
[12] vgl. o.A.: Anlaufziel für Flüchtlinge. Warum Lampedusa?, in: Tagesschau.de, 3.10.2013, https://www.tagesschau.de/ausland/lampedusa-hintergrund100.html.
[13] vgl. Wikipedia (Deutsch).
[14] o.A.: Auf Lampedusa wächst die Wut auf Europa, in: RP-Online, 8.10.2013, http://www.rp-online.de/panorama/ausland/auf-lampedusa-waechst-die-wut-auf-europa-aid-1.3731699.
[15] ebd.
[16] Gillert, Internet.
[17] ebd.
[18] ebd.
[19] RP-Online, Internet.

Szenenbilder “Fuocoammare”© Weltkino Filmverleih. Alle Rechte vorbehalten.

Just Following Orders

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Es ist vielleicht das berühmteste Comic-Mantra aller Zeiten: “With great power comes great responsibility”, wird Teenager-Held Spider-Man eingebläut. Macht bringt Verantwortung mit sich – und der will sich nicht immer jeder stellen. Der Mensch fühlt sich sicherer, wenn er die Verantwortung weitergeben kann. Nicht nur, aber auch, in Zeiten juristischer Haftbarkeit. Auch Nazi-Kriegsverbrecher wie Adolf Eichmann verwiesen wie dieser in seinem Prozess 1961 darauf, dass sie im Holocaust lediglich Befehle befolgt hätten. Doch schon Molière wusste: “It is not only for what we do that we are held responsible, but also for what we do not do.” Obrigkeitsgehorsam faszninierte auch den Sozialpsychologen Stanley Milgram.

Im selben Jahr wie Eichmanns Prozess in Israel führte Milgram, der selbst Familie im Holocaust verloren hatte, 1961 an der Yale University ein Sozialexperiment durch. Eine Person sollte dabei einem weiteren Probanten, der in Wahrheit ein Mitarbeiter Milgrams war, immer einen Stromschlag verpassen, wenn dieser bei einer Gedächtnisübung eine falsche Antwort gab. Beide Personen befanden sich jedoch nicht im selben Raum und die Stromschläge nahmen an Intensität zu, je häufiger der zweite Probant – „Schüler“ getauft – bei seinen Antworten falsch lag. Das eigentliche Testobjekt, der „Lehrer“, unterstand hierbei nur einem Versuchsleiter, der eingangs die Anweisung für das Experiment gegeben hat.

Was zuerst ohne großen Widerspruch verläuft, gewinnt an Widerwillen, je öfter der vermeintliche Schüler falsch antwortet und einen Stromschlag erhält. Einen solchen in Form von 45V erhielt auch der Lehrer zu Beginn, um ein Gefühl zu bekommen, was den Schüler erwartet. Mit fortschreitender Dauer – und steigender Voltstärke – nehmen die Klagen des Schülers zu und mit ihnen die Zweifel der wahren Testperson. Dennoch, bestärkt vom Versuchsleiter, folgen sie dessen Anweisungen, selbst wenn sie es nicht wollen. “He went all the way. Most of them do”, sagt Stanley Milgram, gespielt von Peter Sarsgaard, dem Zuschauer in Michael Almereydas Film Experimenter, der sich Milgrams Versuchen widmet.

Insgesamt 65% aller Teilnehmer hätten das Experiment zu Ende geführt, wenn der Schüler (im Film: Jim Gaffigan) mehrfach mit 450V – dem Zehnfachen dessen, was der Lehrer selbst erlebt hat – geschockt wird. Von 780 Testpersonen hätte, so verrät Milgram im Film, keine einzige nach dem Wohlergehen des Schülers gesehen. Auch wenn einige, genauer 35%, den Versuch zu einem bestimmten Zeitpunkt abbrachen. In Experimenter sehen wir davon nur einen, gespielt von Anton Yelchin, der seine Ablehnung dadurch begründet, dass er als Elektriker um die Schmerzen durch Stromschläge wisse. Der Großteil der Film-Probanten fügt sich aber – auch dank der Autorität des Versuchsleiters (hier: Edoardo Ballerini).

“So you accept all the responsibility?“, fragt einer der Lehrer den Versuchsleiter und bestätigt damit die These für Milgrams Versuch. Kann der Mensch die Verantwortung für sein Handeln einer anderen Person übertragen, entfremdet er sich derart von seinem Tun, dass er wider sein Gewissen vorgehen kann. “The individual yields to authority”, beschreibt Milgram im Film. “And in doing so becomes alienated from his own actions.” Die Testpersonen folgen lediglich Anweisungen und sehen sich dafür nicht für ihre Aktionen verantwortlich, obschon ihnen diese missfallen. Sie alle könnten das Experiment abbrechen, als der Schüler schmerzerfüllt aufheult oder sie um einen Abbruch bittet.

Almereydas Film widmet sich aber nicht nur dem Milgram-Experiment, sondern auch dessen wissenschaftlicher Rezeption. So setzte die American Psychological Association Milgrams Mitgliedschaft nach Veröffentlichung seiner Ergebnisse für ein Jahr aus. Und auch eine Festanstellung an der Harvard University, wo Milgram 1963 eine Stelle als Assistenzprofessor erhielt, blieb ihm versagt. “How do you justify the deception?”, fragt ihn eine Studentin seines Psychologiekurs in Harvard. Und Milgram erwidert ihr, dass es für ihn eher eine Illusion gewesen sei. Der Frage, ob die Vortäuschung verwerflich ist für einen erfolgreichen Verhaltensversuch, stellt sich Experimenter nicht. Auch war sie Gang und Gäbe.

Schon Milgrams Mentor Solomon Asch (im Film: Ned Eisenberg) griff in seinem Konformitätsexperiment zu den Folgen von Gruppenzwang auf Manipulationen zurück. Dennoch bringt die Vortäuschung Milgrams natürlich ihre Folgen mit sich. Experimenter zeigt dies – jedoch in einer etwas verschenkten Szene – als Milgram der Klasse im November 1963 vom tödlichen Attentat auf Präsident Kennedy berichtet und diese es für ein weiteres Experiment hält. Immer wieder muss sich Milgram mit den wissenschaftlichen Wellen, die sein Experiment schlug, auseinandersetzen. Almereyda zeigt dies in der zweiten Hälfte seines Films jedoch nur bedingt, wenn wir Milgram und seine Karriere in die siebziger Jahre begleiten.

Zwar reißt Experimenter weitere sozialpsychologische Experimente von Milgram an, geht dabei jedoch nicht derart in die Tiefe, wie diese auch nicht so interessant sind wie das ursprüngliche. Zudem gelingt es Almereyda nicht, den Zuschauer genug Einblick ins Innenleben des Wissenschaftlers zu geben – obschon der Film wiederholt mit unpassendem Brechen der Vierten Wand aufwartet. Welche Folgen hatte das Experiment und Milgrams Arbeit wirklich auf seine Ehe mit Alexandra (Winona Ryder) und die Beziehung zu seinen Kindern? Experimenter verliert sich hier im Verlauf der finalen Dreiviertelstunde etwas und untermauert zugleich, dass er nur so interessant ist, wie die Darstellung des Milgram-Experiments darin.

“Human nature can be studied but not escaped, especially your own”, sagt Sarsgaards Figur zu Beginn, verrät dem Publikum aber nur bedient etwas über ihren Charakter. Zuvorderst lebt Experimenter also von der Faszination des eigentlichen Experiments, auch wenn dies nicht die von Milgram erhofften Einblicke schenken will, wieso in Nazi-Deutschland der Holocaust möglich war. Das systematische Vernichten einer Rasse mit Obrigkeitsgehorsam zu erklären, wirkt zu billig. Almereyda widmet sich auch nicht dem Vergleich jenseits der Inspiration durch den Eichmann-Prozess. Dessen ungeachtet zeigt jedoch das Experiment, wie bereitwillig Menschen unter gewissen Bedingungen Dinge tun.

Ähnliche Erfahrungen machten Philip Zimbardo im Stanford-Prison-Experiment (1971) oder Ron Jones im Third-Wave-Projekt (1967). Auch Milgram kommt zum Schluss des Films zur Erkenntnis: “Sometimes a person’s actions depend equally on the situation you find yourself in.” Leichter ist es, allemal, wenn Verantwortung hierbei weitergeschoben werden kann. “Liberty means responsiblity. That is why most men dread it”, wusste schon George Bernard Shaw. Und egal, ob eine Obrigkeit einem Anweisungen gibt, die Verantwortung für das Handeln liegt bei der ausführenden Person. Denn “the ultimate authority”, sagte auch der Dalai Lama, “must always rest with the individual’s own reason and critical analysis”.


Szenenbilder “Experimenter”© Lighthouse Home Entertainment. All Rights Reserved.

An American Tragedy

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Es gibt diese medialen Momente der Zeitgeschichte, die wird ein Mensch wohl kaum mehr aus seinem Gedächtnis löschen können. So wie die Live-Berichterstattung zum 11. September 2001 mit dem Einsturz des World Trade Centers, das Verkünden des Verkehrsunfalls und späteren Ablebens von Prinzessin Diana am 31. August 1997, aber auch jene wahnwitzige Verfolgungsjagd des 17. Juni 1994 von O.J. Simpsons weißem Ford Bronco durch die Polizei von Los Angeles. Der Fall O.J. Simpson war Mitte der neunziger Jahre ein mediales Event, im Fernsehen übertragen und eine ganze Nation spaltend in einer historischen Phase der USA, als der Rassismus-Diskurs noch mehr Alltag war als heute.

In den USA befasste sich dieses Jahr die erste Staffel (The People v. O.J. Simpson) der Kabelserie American Crime Story mit dem Fall O.J. Simpson. Dem ehemaligen Football-Spieler und Schauspieler legte die Bezirksstaatsanwaltschaft von Los Angeles 1994 zur Last, seine Ex-Frau Nicole Brown Simpson am 12. Juni jenes Jahres nebst ihrem Freund Ron Goldman erstochen zu haben. Auch Regisseur Ezra Edelman widmet sich in seiner fast achtstündigen ESPN-Dokumentation O.J.: Made in America dem Verlauf jener Gerichtsverhandlung, aber auch seiner Vorgeschichte sowie der kulturgeschichtlichen Hintergründe. Das Ergebnis seiner Arbeit ist ein intensiver, spannender und ungemein aufschlussreicher Film.

Unterteilt in fünf Kapitel – weshalb der Film auch als Miniserie angesehen werden kann – erzählt Edelman von den Anfängen des Orenthal James Simpson als junger College- und späterer Profi-Footballspieler. Von seiner zweiten Ehe mit der ehemaligen Kellnerin Nicole Brown sowie deren unweigerlichem Scheitern, vom Mord an Nicole Brown Simpson und dem Arrest von O.J., jener von einer ganzen Nation verfolgten Gerichtsverhandlung sowie den Folgejahren nach Simpsons Freispruch. Wie das Schicksal so spielt, landete der heute 69-Jährige am Ende doch im Gefängnis – wenn auch nicht für jenes Verbrechen, für das ihn allgemein zumindest die Mehrheit der weißen Bevölkerung der USA als schuldig erachtet.


Edelmans Film beginnt mit einer Bewährungsanhörung von O.J., der 2008 für Kidnapping und einen bewaffneten Überfall zu einer Freiheitsstrafe von 33 Jahren verurteilt wurde. Während jener Anhörung wird er er auch nach seinem ersten polizeilichen Arrest im Jahr 1994 befragt. Und reagiert leicht genervt mit der Frage “We’re talking about this?”. Unweigerlich dreht sich die Frage immer um jenen Mordfall von 1994, wenn es um O.J. Simpson geht. Ungeachtet dessen, ob der 69-Jährige damals die Tat nun begangen hat oder nicht, so sollte in jener Nacht des 12. Juni auch sein früheres Leben für immer enden. Und der Jahrzehnte als “American hero” verehrte Prominente zu einer amerikanischen Tragödie werden.

Im Grunde skizziert O.J.: Made in America wie zuerst für einen jungen Mann der American Dream wahr wurde, nur um sich später zum Albtraum zu verkehren. Insofern ist die Geschichte von O.J. Simpson einerseits eine persönliche, aber auch eine allgemeine, vielmehr noch aber eine Geschichte über Amerika und das Verhältnis von Schwarzen und Weißen im Land. “We talk about O.J. as if the story is O.J.”, formuliert dies im Verlauf des Films die Journalistin Celia Farber. Und stellt klar: “The story is O.J. and us.” Immerhin lebte O.J. Simpson ein solches Promi-Leben, das von Abhängigkeit zu seinen Fans und dem daraus resultierenden Ruhm geprägt war. Genauso wie von der Faszination der Menschen mit O.J.

Bereits als Kind ging es für O.J. im Leben nicht um Geld. “I wanted to be known”, verrät er uns zu Beginn aus dem Off. Die Leute sollten ihn auf der Straße sehen und sagen “hey, there goes O.J.”. Sein Wunsch würde Befehl werden, erst im Guten, dann im Schlechten. Das Fundament seines Ruhms bildete sein sportliches Talent, war O.J. doch ein geborener Athlet. Einer seiner ehemaligen Football-Trainer sagt “he was one of a kind” und sein späterer Mitspieler bei den Buffalo Bills, Joe DeLamielleure, beschreibt, O.J. “could run sideways faster than most men forward”. Seine Schnelligkeit und Agilität war es dann auch, die ihm 1967 während eines College-Football-Spiels zum Durchbruch verhelfen sollte.


Im Derby zwischen der University of California und UCLA sicherte O.J. mit einem 64-Yard-Sprint den Sieg. “He became an instant national star”, erinnert sich Teamkamerad Steve Lehmer. In der Folge wurde O.J. von Buffalo gedraftet, begann bereits während seiner Profi-Karriere, Nebenrollen in Hollywood-Filmen zu übernehmen, darunter im The Naked Gun-Franchise. Mit dem lang ersehnten Ruhm folgte aber zugleich der schleichende Niedergang. Bereits an der University of California war O.J. Mitte der Sechziger quasi der einzige Schwarze unter Weißen. Und er verlor, so eine zentrale These von Edelmans Dokumentation, auch aufgrund damaliger historischer Vorfälle in L.A. seine schwarze Identität.

Polizeigewalt gegen die schwarzen Bürger von Los Angeles (und natürlich auch anderswo in den USA) war in den sechziger Jahren keine Seltenheit. Als Reaktion kam es zu Aufständen der schwarzen Bevölkerung, schwarze Athleten erklärten einen Boykott und Widerstand – darunter auch Muhammad Ali. Kein Bestandteil hiervon war jedoch O.J., der, sicher nicht nur gespielt, in seiner eigenen Welt lebte. “I’m not black, I’m O.J.”, diktierte er seinerzeit mal ins Mikro. Und in der Tat wurde O.J. aufgrund seiner Anpassung von seinen weißen Mitbürgern mehr akzeptiert als wohl so mancher andere Schwarze. “He transcended race and color”, fasst es TV-Reporterin Zoey Tur in einer späteren Szene treffend zusammen.

O.J. spielte das Spiel des weißen Mannes mit, stets freundlich und bemüht, zugleich charmant und – am wichtigsten – immerzu erfolgreich. “O.J. portrayed success”, findet Frank Olson, CEO des Autoverleihs Hertz, zu dessen Werbefigur der Football-Star in den Siebzigern avancierte. In der Gegenwart von O.J. fühlten sich alle gut, insbesondere Weiße, erinnert sich New York Times-Journalist Robert Lipsyte. Dazu musste sich O.J. aber nicht nur von den Vorfällen der ständigen Rassendiskriminierung distanzieren, sondern allgemein von seiner Kultur. “He lost his identity”, sagt sein Jugendfreund Joe Bell. “He was seduced by white society.” Da passte es ins Bild, dass O.J. seine schwarze Frau für eine weiße verließ.


Anfangs war es die große Liebe zwischen O.J. Simpson und Nicole Brown, die zwei Kinder hervorbrachte. Enden würde ihre Beziehung jedoch in zwei blutigen Morden. Bereits Ende der 1980er Jahre gab es vermehrt Fälle häuslicher Gewalt im Hause Simpson, beide Ehepartner trennten sich, kamen erneut zusammen und ließen sich dann scheiden. Für den untreuen und eifersüchtigen O.J. ein schwerer Schlag – und womöglich Mordmotiv. “He had everything”, schaut Frank Olson am Ende des Films auf das Leben seiner Werbefigur zurück. Geld, Ruhm, eine tolle Familie und die Zuneigung der amerikanischen Bevölkerung. “He should’ve been a model citizen”, zieht der Pastor Cecil Murray als Schluss aus all diesen Vorzügen.

Doch Ruhm und Reichtum korrumpieren und wer alles hat, wird selbstgefällig. Was wirklich in der Nacht des 12. Juni 1994 geschah, vermochte weder der Prozess gegen O.J. Simpson noch Ezra Edelmans Dokumentation aufzuklären. Was der Fall offenlegte, war die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft zwischen Weiß und Schwarz. Nur wenige Jahre zuvor waren die Polizeibeamten, die Rodney King attackiert hatten, freigesprochen worden. Wie würde nun gegen O.J. vorgegangen werden? Die Verhandlung wurde zum “Trial of the Century”, primär weil ein schwarzer amerikanischer Held eine weiße Frau umgebracht haben soll. “The case was everywhere”, erinnert sich der Journalist und Autor Jeffrey Toobin.

Das Rassenthema hielt selbst Einzug in den Gerichtssaal, als wider Erwarten die Jury zu zwei Dritteln aus Schwarzen bestand und die Bezirksstaatsanwaltschaft um Gil Garcetti und Marcia Clark die Prozessleitung ihrem schwarzen Kollegen Christopher Darden überließ. Ein Fehler, wie sich herausstellen sollte, machte Darden gegen Simpsons Star-Verteidiger Johnnie Cochran doch keine gute Figur. Die Schuld traf jedoch die Polizei von Los Angeles allgemein, reihten sich doch Fehler an Fehler in der DNS-Beweisführung und Tatortbehandlung. “You could see the disaster coming”, führt Toobin aus. Und dies trotz einer erdrückenden Beweislast, inklusive DNS-Verbindungen zwischen Simpson und den Opfern.


In gewisser Weise stand nicht nur O.J. Simpson vor Gericht, sondern ganz Los Angeles als Stadt. Als Folge des Rodney-King-Falls, von seiner Attacke über die Ausschreitungen in L.A. bis zum Freispruch der Polizeibeamten, aber auch anderer Polizeigewalt gegen Schwarze wie Eulia Love in 1979 war die Stimmung gereizt in der Stadt der Engel. So hielten 77 Prozent der Weißen O.J. Simpson für schuldig, während 72 Prozent der Schwarzen ihn als unschuldig ansahen. Und O.J. selbst wurde das, was er immer erfolgreich vermieden hatte: aufgrund seiner Hautfarbe instrumentalisiert im Disput zwischen Schwarz und Weiß. “O.J. Simpson became a symbol of that decade, of that time”, fasst Pastor Murray zusammen.

Insofern ist es reiner Zynismus, wenn eine der Geschworenen von damals in O.J.: Made in America gesteht, dass der Freispruch für Simpson primär von Vergeltung für Rodney King motiviert war. Aber auch dadurch erklärt, dass der Fall aufgrund seiner Präsentation der Staatsanwaltschaft nicht alle Zweifel ausräumen konnte. Letztlich war O.J. zwar frei, aber doch verurteilt. Das weiße Los Angeles mied ihn anschließend und O.J. musste nach Jahrzehnten das tun, was er einst aufgegeben hatte: sich als Schwarzer in die schwarze Gesellschaft eingliedern. “If you’re a celebrity you have no color”, sagt Robin Greer, eine Bekannte der Simpsons, über Los Angeles. Zumindest O.J. hatte nun aber doch eine – wenn auch zwangsweise.

Den Tod von Nicole Brown Simpson und Ron Goldman konnte er fortan nicht mehr abschütteln – egal ob Täter oder nicht. Die Zuneigung der Leute, zuvorderst der weißen High Society, der sich O.J. seit den 1970er Jahren zugehörig fühlte, war verloren. Später auch das Vermögen. Einige wertvolle Erinnerungsstücke kamen ihm abhanden, als er sie mit zwielichtigen Bekannten zurückholen wollte, handelte sich O.J. schließlich die zweite Anklage ein. Dass er mit 33 Jahren nun die Maximalstrafe erhielt, sieht nicht nur Jeffrey Toobin als Akt juristischer „Rache“ für den Freispruch von 1995. Ausgleichende Gerechtigkeit könnte man ätzen, nur stehen hinter beiden Entscheidungen am Ende wohl eher niedere Beweggründe.


Ezra Edelman gelingt es auf brillante Weise, ein Dokument nicht nur über den Mordfall von Nicole Brown Simpson, das Verfahren gegen O.J. und seine Schuldfähigkeit zu inszenieren, sondern er zeichnet zugleich ein interessantes und spannendes Porträt des Football-Stars selbst. Ergänzt und kontrastiert mit den Rassenunruhen der damaligen USA, weshalb O.J.: Made in America zwar zuvorderst über O.J. Simpson spricht, aber letztlich fast mehr über die USA und ihr Verhältnis zu ihrer schwarzen Bevölkerung aussagt. Das Ganze gelingt Edelman auf teils subtile Art ungemein besser als dem thematisch nicht unähnlichen und ebenfalls aus 2016 stammenden Dokumentarfilm The 13th von Ava DuVernay.

Die beinahe achtstündige Laufzeit ist im Fall von O.J.: Made in America von Vorteil, Längen stellen sich aufgrund der faszinierenden und hochspannenden Materie trotz ihres bekannten Ausgangs nicht ein. Zudem gelingt es Edelman einen Großteil der damaligen Protagonisten – am auffälligsten ist das Fehlen von Christopher Darden – als Talking Heads zu gewinnen. Das Ergebnis ist fraglos eine der besten Crime-Dokumentationen aller Zeiten, aber auch überzeugendes Biopic zu O.J. Simpson und Dokument über die Kluft zwischen Schwarzen und Weißen in Amerika. “My story is just like an American tale”, sagt uns ein junger O.J. Simpson am Ende aus dem Off. Aber wer alles hat, kann eben auch alles verlieren.


Szenenbilder “O.J.: Made in America”© ESPN Films. All Rights Reserved.

Just Pure Pleasure

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„Denn sie wissen nicht, was sie tun“ ist so ein Ausspruch, den man im Fall von Larry Clarks Kids auch erweitern könnte zu: Denn sie wissen nicht, was sie tun sollen. Zu sagen, Kids schlug 1995 ein wie eine Bombe, ist sicherlich zu viel des Guten. Provokativ war Harmony Korines Drehbuch über einen Tag im Leben einer Gruppe Jugendlicher während der Sommerferien aber allemal. Rita Kempley schrieb seiner Zeit in der Washington Post gar von “child pornography”[1], die höchstens Pädophile reizen würde [2]. Der Film will nicht zwingend schockieren, aber durchaus auf etwas hinweisen. Auf eine Welt, die Erwachsene nicht mehr vollends verstehen, obwohl sie selbst in ihr gelebt haben. Die Welt des Teenagers.

Kids spielt während eines warmen Sommertages in den Straßen von New York. Es sind Ferien und die jugendlichen Protagonisten suchen sich außerhalb der Schule ihre Beschäftigung. Der pubertierende Telly (Leo Fitzpatrick), dessen Sexualität jüngst erblühte, geht zu Beginn seinem Ziel nach, gleichaltrige Mädchen zu entjungfern. “Virgins. I love it”, verrät uns die Figur via Erzählstimme. “No diseases. No loose as a goose pussy. No skank. No nothing. Just pure pleasure.” Wie sich im Laufe des Films herausstellen wird, stimmt dies nur bedingt. Zumindest der Aspekt mit den Krankheiten. Die sind durchaus präsent, wenn auch nicht bei den Jungfrauen – sondern vielmehr in der Person von Telly.


Der Tag im Film endet dabei später so wie er begann: Mit Telly, wie er ein junges Mädchen dazu überredet, ihre Jungfräulichkeit an ihn zu verlieren. “You care about me?”, fragt die namenlose 12-Jährige zu Beginn wie am Ende auch die 13-jährige Darcy (Yakira Peguero). Wie die Frage der Mädchen nach Zuneigung dieselbe ist, so ist es auch Tellys Antwort: “Of course I do.” Zweifel während des sexuellen Akts selbst wischt der Teenager dann durch aufmunterndes Lob bei Seite. In beiden Fällen vollziehen die Mädchen den Geschlechtsverkehr mit Telly ohne Kondom. Dabei sollte es gerade Darcy besser wissen, erzählte sie Telly zuvor doch von ihrer älteren Schwester Nicky, die mit 15 Jahren ihr erstes Kind gebar.

Clark und Korine gehen hier wohl bewusst etwas ins Drastische, bedenkt man, dass 1995 bereits 71 Prozent der Mädchen sowie sogar 82 Prozent der Jungen beim Sex verhütet haben [3]. Seit Anfang der 1980er Jahre war die Zahl der Frauen, die auf Verhütungsmittel zurückgreifen kontinuierlich gestiegen, von 48 Prozent auf 79 Prozent im Jahr 2013 [4]. Auch Sex bei den Unter-15-Jährigen ging in den USA zurück, so erleben Jugendliche seither ihr erstes Mal im Schnitt mit 17 Jahren [5]. Für Kids ist der Aspekt des ungeschützten Sex’ natürlich entscheidend, dreht sich der Film im Kern doch um die Risiken dieses Verhaltens in Form einer HIV- bzw. Aids-Erkrankung – im Film personifiziert durch Chloë Sevignys Jennie.


Auch sie verlor ihre Jungfräulichkeit an Telly. Aus Solidarität begleitet Jennie ihre Freundin Ruby (Rosario Dawson) zur HIV-Vorsorge und wird dabei positiv auf die Krankheit getestet. Es ist Ironie, dass es Jennie, die nur einmal Sex hatte, trifft, während Ruby, die immerhin mit 15 Jahren bereits neun verschiedene Sexualpartner hat, von denen sie mit 4 Analverkehr vollzog, ungeschoren davon kommt. “Now I have to tell my little brother that I’m gonna die”, ist die 16-Jährige hinterher aufgelöst, auch wenn Ruby ihr zuredet “it’s gonna be okay”. Für Jennie bleibt nun nur, die schlechte Nachricht an Telly zu übermitteln, vorzugsweise, ehe dieser droht, die Krankheit an ein weiteres junges Mädchen weiterzugeben.

Fortan erlebt der Zuschauer die Umgarnungsversuche von Telly gegenüber Darcy aus einem ganz anderen Blickwinkel. Ist der 16-Jährige erfolgreich, wird die 13-Jährige dadurch HIV-infiziert, für die 12-Jährige zu Beginn kommt jede Hilfe schon zu spät, die Dunkelziffer der weiteren Infizierten bleibt unbekannt. Zumindest für Jennie ist nun Realität, was für ihre Altersgenossen bis dahin eher unwirklich schien. “I don’t know no kid with AIDS, man”, sagt einer der Jugendlichen auf einer der Drogenpartys, die Telly besucht. “No one I know has ever died from that shit.” Zwar ist HIV und Aids ein Thema unter den Jugendlichen, allerdings keins, das sie für sich reklamieren. Dabei sind gerade sie eine der Haupt-Zielgruppen.


In der Phase zwischen dem ersten Sex und der Eheschließung besteht die erhöhte Gefahr einer sexuellen Erkrankung [6]. Rund ein Viertel aller HIV-Patienten (23 Prozent) in den USA gehört zu der Altersklasse der 13- bis 24-Jährigen [7]. Jennie ist dabei das „Nachher“-Bild, das wir in Kids nicht von Tellys „Errungenschaften“ zu sehen kriegen. Sie und Telly erhalten keine gemeinsame Szene im Film, der Zuschauer kann sie sich aber auch so vorstellen. “You care about me?”, wird Jennie gefragt haben. “Of course I do”, dürfte Tellys Antwort gewesen sein. Nach dem Sex folgte jedoch Ignoranz und bei der 16-Jährigen Frust, Enttäuschung und ein bleibender Schaden. Psychologischer Natur, aber eben auch physischer.

Die Unreife innerhalb der sexuellen Reife skizzieren Clark und Korine jedoch keineswegs als rein männliches Problem. Exemplarisch stellt der Film die jeweiligen Geschlechter in einer Sequenz einander gegenüber, wo Jungs und Mädchen über Sex und ihr Bild vom anderen Geschlecht sprechen. “I love sex, girl”, macht Ruby da direkt deutlich. “Hard-core pound fucking.” Die Mädchen sind nicht frei von Schuld, wo man von einer solchen sprechen will. Wie bereits erwähnt hat Darcy in ihrer großen Schwester ein abschreckendes Beispiel. Und auch Telly sieht in seinem eigenen Zuhause mit seiner Mutter, welche Folgen eine frühe Schwangerschaft auf das Leben von Mutter und Kind haben kann.


So raucht Tellys Mutter, während sie gleichzeitig sein junges Geschwisterchen stillt. Der Sohn klaut ihr derweil Geld aus der Tasche und sie ermahnt ihn, bis 4 Uhr nachts wieder Zuhause zu sein. Die Kinder in Kids werden – sicher auch, weil Schulferien sind – sich selbst überlassen. Und wissen außer Sex, Alkohol und Drogen zu frönen nicht wirklich etwas mit sich anzufangen. Ein Paradebeispiel ist dabei Tellys gleichaltriger Freund Casper (Justin Pierce), die sicher charismatischste Figur unter den Jungen. Casper ist mit seinen 16 Jahren bereits ein harter Alkoholiker, dabei aber trotz einiger gegenteiliger Szenen in der zweiten Hälfte des Filmes nicht zwingend ein grundsätzlich schlechter Mensch.

In der Tat wird viel Gutes und Schlechtes bei Casper einander gegenübergestellt. Wir sehen ihn eingangs Alkohol und einen Pfirsich aus einem koreanischen Lebensmittelladen stehlen, den Pfirsich schenkt er anschließend jedoch einem kleinen Mädchen (auch wenn dieses das Obst nicht isst). Als später in der U-Bahn ein Obdachloser mit amputierten Beinen bettelt, gibt ihm der Skateboarder Casper etwas Wechselgeld. Gleichzeitig ist es jedoch auch Casper, der in der Szene im Washington Square Park der Auslöser für einen brutalen Übergriff auf einen Passanten ist, den der Teenager zuvor angerempelt hat. Eine Gewalteruption, die nicht nur Casper, sondern die ganze Gruppe der anwesenden Jungen ergreift.


Dem Jugendgewalt-Charakter widmet sich der Film nur peripher, konzentriert in dieser einen Park-Szene, die beispielhaft für ähnliche Vorfälle steht. Der Berliner Gerichtsgutachter Karl Kreutzberg spricht hierbei von einem „überschießend unkontrollierte[n] Herumalbern“, in dessen Folge dann Jungs viel zu laut seien [8]. Zu viel Adrenalin, zu viel Testosteron, zu wenig Verstand sei laut Kreutzberg in solchen Situationen im Spiel [9]. „Da weiß man sofort, es dauert nicht lange, dann wird es ernst.“[10] Die Gruppendynamik tut dann ihr Übriges. Letztlich warten die Jungen nur auf einen Grund, um aus Langeweile ihrem Frust freien Lauf zu lassen. So startet die Szene im Park damit, dass ein Schwulenpärchen beschimpft wird.

Da passt es natürlich, dass die Jungs bei einem abendlichen Einbruch in das lokale Schwimmbad wiederum zwei Mädchen ihrer Clique zu homosexuellen Aktivitäten animieren. Wo Schwulsein nicht okay war, ist es lesbisches Herummachen dagegen schon. “You guys are fucking sick, you know that?”, verbalisiert zwar eines der Mädchen den Gewalt-Vorfall im Park – hängt aber dennoch bereitwillig mit Casper und Co. ab. Eben auch, weil die Alternativen fehlen. In der Folge geben sich die Jugendlichen bei einer nächtlichen Party wieder Alkohol und sexuellen Aktivitäten hin, während Tellys Bemühen bei Darcy fruchtet und Jennie zu spät auftaucht. Lediglich ein “shut the fucking door!“ kriegt sie noch zu hören.


Jennie verkriecht sich auf die Couch, wo bereits die nächste, jüngere Generation zugedröhnt liegt. Ihnen geht es ähnlich wie Telly und Co. – sie sind sich selbst überlassen und kopieren das Verhalten der Älteren. Während Telly und Darcy nach dem Sex-Akt einschlafen, wacht Casper aus seinem Rausch wieder auf. Notgeil vergewaltigt er eine benebelte Jennie, als wäre deren Leid nicht bereits groß genug. Die „Strafe“ folgt auf dem Fuß, markiert Casper damit doch das finale HIV-Opfer dieses Tages, neben Jennie, Telly, Darcy und dem 12-jährigen Mädchen. Welche Zukunft ihnen allen bleiben wird, ist unklar. Die Reaktion auf ihre Erkrankung ersparen Larry Clark und Harmony Korine ihren Charakteren.

Kids ist dabei nicht zwingend repräsentativ für die Welt der Jugendlichen Mitte der 1990er – vielleicht nicht einmal unbedingt für die im New York der damaligen Zeit. Auch wenn viele Elemente des Films den Beteiligten bekannt vorkamen [11]. Dennoch vermochte Clark, der vor Filmbeginn viel Zeit mit den Jugendlichen verbrachte, um ihr Vertrauen zu gewinnen, durchaus die Atmosphäre eines jungen Lebens zu der damaligen Zeit einzufangen. “Life is too short”, versucht ein Taxifahrer die traurige Jennie in der Mitte des Films aufzumuntern. Nicht ahnend, dass dies mit der Nachricht des Tages nun tatsächlich so für sie sein wird. All das nur, weil sie, Telly, Casper, Darcy, Ruby und Co. nicht wussten, was sie tun sollten.




Quellenangaben:

[1] vgl. Kempley, Rita: Kids (NR), in: The Washington Post, 25.8.1995, http://www.washingtonpost.com/wp-srv/style/longterm/movies/videos/kidsnrkempley_c029f5.htm.
[2] ebd.
[3] vgl. o.A.: American Teens’ Sexual and Reproductive Health, in: Guttmacher Institute, September 2016, https://www.guttmacher.org/fact-sheet/american-teens-sexual-and-reproductive-health.
[4] ebd.
[5] ebd.
[6] ebd.: “On average, young people in the United States have sex for the first time at about age 17 but do not marry until their mid-20s. During the interim period of nearly a decade or longer, they may be at heightened risk for unintended pregnancy and STIs.”
[7] ebd.
[8] vgl. Mielke, Michael: Warum Jugendliche plötzlich gewalttätig werden, in: Berliner Morgenpost, 29.7.2013, http://www.morgenpost.de/berlin-aktuell/kriminalitaet/article118478331/Warum-Jugendliche-ploetzlich-gewalttaetig-werden.html.
[9] ebd.
[10] ebd.
[11] “I grew up around a bunch of girls, who at 13 or 14 were having sex with their boyfriends, who were usually drug dealers, and they were usually not using condoms, because the boyfriend preferred to do it ‘raw dog‘ because it felt better”, beschreibt Ruby-Darstellerin Rosario Dawson, s. Bates, Rebecca: Rosario Dawson Looks Back at ‘Kids’ 20 Years Later, in: Vice, 26.6.2015, https://www.vice.com/en_uk/article/rosario-dawson-talks-kids-20-years-later-625.

Szenenbilder “Kids”© Filmjuewelen. All Rights Reserved.

A Simple Life

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Man musste nicht Kassandra sein, um zu ahnen, wie der Tenor nach Terrence Malicks jüngstem Meisterwerk Song to Song ausfallen würde. Der Texaner sei “in broken-record mode”, so Peter Debruge [1]. “We’ve heard it all before.”[2] Dasselbe lässt sich jedoch inzwischen auch über die Kritik an Malicks Schaffen sagen. Von den Witzeleien über die geflüsterten Voice-over der Figuren, die an Parfüm-Werbung erinnernde Kameraarbeit und das Frohlocken in den Feldern [3]. Auch für Thomas Abeltshauser werden „die über die Bilder gehauchten Selbsterfahrungsergüsse zunehmend lächerlich und erweisen sich als First-World-Problemchen“[4]. Wer dachte, der Auteur konnte das Feuilleton nicht noch mehr spalten als mit seinem letzten Film Knight of Cups, wird eines Besseren belehrt.

Entsprechend fällt das Urteil bei solchen Übersichtsseiten wie Rotten Tomatoes aus. Hier stellt Song to Song mit einer Bewertung von derzeit 45 Prozent den Tiefpunkt von Malicks Filmografie dar – wenn auch nur knapp hinter Knight of Cups und To the Wonder mit 46 Prozent [5]. Folglich liegen Resümees wie die von Peter Travers nahe, der Malick bescheinigt, er setze “his WTF losing streak with this rambling, incoherent love-triangle story” fort [6]. Selbst seine Fans scheint Malick mit Song to Song vor den Kopf zu stoßen, dieser sei “disjointed even by the standards of a Malick film”, wie Matt Zoller Seitz findet [7]. Auch er kritisiert die scheinst verstärkte Repetition in des Regisseurs neuestem Werk, “the central love triangle and other elements are all rehashed from recent Malick films”[8].

Was natürlich nur bedingt zutrifft. So beinhaltet The New World mit Abstrichen – aber nicht wirklich – eine Dreiecksbeziehung, ähnlich wie dies in To the Wonder der Fall ist. Eine buchstäbliche solche inszeniert Malick aber nur in Song to Song und damit erstmals seit Days of Heaven. “Much of his recent output has felt irritating”, räumt Danny Leigh jedoch ein, “his reputation further battered with each film.”[9] Fans des Regisseurs ist bewusst, dass er “one of the most parody-ready filmmakers working right now” ist [10]. Schon die amerikanische Kosmetikunternehmerin Elizabeth Arden wusste: “Repetition makes reputation.” Und seinen Ruf hat sich Malick inzwischen verdient, weshalb die sich wiederholende Kritik an seiner Wiederholung Mal um Mal ermüdender ausfällt.


Der Regisseur erzähle keine Geschichte, reihe lediglich Parfümbilder aneinander, ist eine dieser wiederkehrenden Vorurteile jener Zuschauer, die nicht im Stande sind, aus den gezeigten Bildern die Handlung zu interpretieren. So erzählt Song to Song eine für malicksche Verhältnisse enorm komplexe Geschichte über seine zuletzt ausgiebig vertieften Themen von Liebe, Einsamkeit und Sinnsuche. Im Fokus steht die junge Musikerin Faye (Rooney Mara), die sich nebst anderen Beschäftigungen als Housesitterin verdingt, während sie von einem Durchbruch in der Musikbranche träumt. Den verspricht sie sich von Musikproduzent Cook (Michael Fassbender), ein wahrer Lebemann, der selbst wiederum sein Auge auf den Country-Musiker BV (Ryan Gosling) als künftigen Protegé geworfen hat.

Bei einer von Cooks Partys lernen sich Faye und BV kennen – und beginnen eine zarte Romanze miteinander. Dies allerdings, während Faye weiterhin ihre sexuelle Beziehung mit Cook aufrecht erhält. Der erkennt jedoch in zunehmender Anwesenheit des jungen Paares, dass dessen Gefühle füreinander ihn in den Schatten stellen. “They have a beauty in their life, it makes me ugly”, sagt Cook – und sucht anschließend selbst nach jener Liebe, die Faye für ihn nicht bereithält. Seine Avancen werden schließlich von der gescheiterten Kindergartenlehrerin und jetzigen Kellnerin Rhonda (Natalie Portman) erhört. Bereitwillig akzeptiert sie Cooks Aufmerksamkeit und finanzielle Sicherheit, von der auch ihre Mutter (Holly Hunter) profitiert. Nur hat all dies scheinbare Glück auch einen gewissen Preis.

Faye scheint dabei Hin- und Hergerissen zwischen der materiellen Sicherheit, die ihr Cook bietet und der emotionalen, die sie bei BV findet. Sie ähnelt damit in gewisser Weise Ben Afflecks Figur Neil aus To the Wonder, der sich ebenfalls zwischen zwei Personen sah, aber mit keiner von ihnen wirklich glücklich wurde. Zugleich ist Faye eine von vielen malickschen Charakteren, auf der Suche nach sich selbst und ihrer Bestimmung. Sie treibt eine gewisse Leere an, die sie sich vermutlich selbst nicht ganz erklären kann, die sie aber versucht, durch Sex zu füllen. Aber “sex without love inevitably proves to be a crucial false promise, a temptation that leads to suffering”[11]. Etwas, das Rhonda später sehr viel deutlicher erfährt als Faye, als sie sich in Cooks sexuellen Extravaganzen verliert.


Auch Cook füllt die Leere in sich mit Sex, mit Partys, mit materiellen Ergüssen. In einer Szene zeigt er Faye sein neues Anwesen. Nur wenige Woche wohnt er in diesem – und gibt sich bereits von ihm gelangweilt. Für Faye mögen Cook und BV nicht nur zwei unterschiedliche sexuelle Partner darstellen, sondern auch zwei verschiedene Lebensentwürfe. BV ist ein Idealist, der zwar gewillt ist, mit Cook einen Plattenvertrag abzuschließen, aber nur unter bestimmten Bedingungen, die seine Integrität gegenüber seiner Musik und sich bewahren. Und wie so viele malicksche Männer-Figuren hat auch BV ein zerrüttetes Verhältnis zu seinem Vater, ähnlich dem von Jack in The Tree of Life oder Rick in Knight of Cups. Und wie diese vor ihm lernt auch BV letztendlich, seinem Vater zu vergeben.

Was alle Figuren eint, ist ihr Gefühl der Verloren- und Orientierungslosigkeit. Keine von ihnen weiß wirklich, was die Bestimmung ihres Lebens ist. Harmonie finden Faye, BV und Cook kurzzeitig in ihrer gemeinsamen Gesellschaft, in Cooks Privatflieger oder während eines Kurztrips nach Mexiko. Langfristig ist dies jedoch kein Modell für fortwährendes Glück. Und so triften die Figuren im zweiten Akt des Film schließlich auch auseinander. Cook zu Rhonda, in der Hoffnung, die Gefühle zwischen Faye und BV auf diese Beziehung zu übertragen. Faye wiederum lässt sich auf die reifere Französin Zoey (Bérénice Marlohe) ein, die jedoch bald darauf von der Unschlüssigkeit des jungen Mädchens gelangweilt wirkt. Ähnlich gelangweilt wirkt auch Amanda (Cate Blanchett), eine kurze Affäre von BV.

Somit bestätigt Malick mit Song to Song erneut, dass er „zu den letzten großen Sinn-Suchern des Weltkinos gehört“[12]. Das große Wieso und Warum ist schon länger Bestandteil seiner Arbeit, durchzieht gerade seine jüngeren Werke. Auch hier, wie in Knight of Cups, scheinen die zentralen Figuren erst zur Ruhe zu kommen, als sie von ihrer Rastlosigkeit zu lassen lernen. “You will never be happy if you continue to search for what happiness consists of”, sagte der französische Philosoph Albert Camus. “You will never live if you are looking for the meaning of life.”Ähnlich formulierte es auch John Hughes (“Life moves pretty fast [...] You might miss it”) in Ferris Bueller’s Day Off, genauso wie John Lennon (“Life is what happens to you while you're busy making other plans”) in “Beautiful Boy”.


Dies alles erzählt Malick wie immer in den elegischen Bildern von Kameramann Emmanuel Lubezki, weniger durch das – ebenfalls wie immer – nicht vorhandene Drehbuch. Vielmehr besteht die nicht chronologisch präsentierte Handlung aus narrativen Fragmenten, welche vom Zuschauer erfordern “to go with the flow as you also puzzle together the story’s parts, themes and circling characters”[13]. Das Ergebnis ist in Song to Song weitaus kohärenter als in Malicks vergangenen Arbeiten, “the film has a rich, complex, thoroughly imagined plot of a novelistiv amplitude”, meint Richard Brody [14]. Und sieht zugleich weniger die Handlung im Vordergrund als die künstlerische Arbeitsweise des texanischen Regisseurs [15], der schon längst – oder: immer? – nicht “commercial cinema’s rules” folgt [16].

Die Misé-en-scene des Regisseurs ist der Star seiner Filme – und zieht selbst jede Menge Stars an. Viele von ihnen tauchen nicht einmal im fertigen Produkt auf, dass sich aufgrund seines fehlenden Drehbuchs stets erst Jahre nach Drehschluss in den Händen mehrerer Cutter findet [17]. Die Tatsache, dass die Schauspieler kein Drehbuch haben, gibt ihnen viele Freiräume, die jedoch auch genutzt werden müssen. Manohla Dargis sieht in Malicks Inszenierungsstil mit seiner losen und primär durch Bildfragmente präsentierten Narration eine enorme Bürde für das Ensemble. Die Darsteller “need to build their characters primarily through individual voice-overs and in onscreen silence or near-silence, in gestures and movement”[18]. Das kann gut, aber auch bei manchem in die Hose gehen.

“What actors do when they aren’t sure what they’re supposed to do”, beschreibt es Matt Zoller Seitz zynisch [19]. Das Ergebnis ist in Song to Song durchwachsen, gerade Michael Fassbender tut sich schwer, ist aber womöglich auch prinzipiell fehlbesetzt. Derweil gelingt es Rooney Mara und Ryan Gosling durchaus bisweilen, durch Blicke und Bewegungen einen Zugang ins klassische malicksche Spiel zu finden. Natalie Portman und Cate Blanchett sind da durch ihre Zusammenarbeit mit dem Regisseur im Vorgänger Knight of Cups schon etwas erprobter. Weitaus harmonischer wirken da beinahe die zahlreichen Musiker-Cameos, von Iggy Pop über Lykke Li bis hin zu den Red Hot Chili Peppers und Patti Smith. Gerade Letztere nimmt dabei innerhalb des Films eine Mentorinnen-Rolle für Faye ein.


Insgesamt schließt Song to Song sowohl thematisch als auch technisch eine Trilogie mit To the Wonder und Knight of Cups ab. “A trilogy of contemporary soul-searching (…) in visual and narrative fragmentation to startling, sometimes perplexing extremes”, wie es Justin Chang beschreibt [20]. Gut möglich – wenn auch nicht gesichert – ist es also, dass Malicks kommender Film Radegund wieder „gewöhnlicher“ daherkommt, als die vergangenen drei Filme des Texaners. Und selbst wenn nicht, wäre es kein Beinbruch. Der Amerikaner “catches life at its most dynamic and its most unstable”[21] wie vielleicht kein zweiter Regisseur heutzutage. Als “one of cinema’s philosopher kings”[22], der mit Song to Song seine jüngste “cinematic symphony”[23] auf die Kino-Banausen losgelassen hat.

Klar sollte inzwischen sein, dass wer mit der künstlerischen Art und Weise, wie Terrence Malick Filme dreht, nicht glücklich ist, dies wohl auch nicht mehr wird [24]. “Beauty and redundancy have become the defining hallmarks of Malick’s filmmaking”, resümiert Chang [25]. “And as long as cinema endures, so will the debate over whether his work deserves our celebration or ridicule.” [26] Malick versteht dabei durchaus, durch Setting-Wechsel seiner „Masche“ etwas neues abzugewinnen. Generell ist die Repetition des Auteurs keineswegs zu verurteilen, vielmehr erfrischend angesichts des Einheitsbreis, den das Kino sonst bereithält. Und schließlich wusste bereits Aristoteles: „Wir sind, was wir wiederholt tun. Vorzüglichkeit ist daher keine Handlung, sondern eine Gewohnheit.“



Quellenangaben:

[1] vgl. Debruge, Peter: SXSW Film Review: ‘Song to Song’, in: Variety, 10.3.2017, http://variety.com/2017/film/reviews/song-to-song-review-terrence-malick-1202006184/.
[2] ebd.
[3] vgl. Zoller Seitz, Matt: Song to Song, in: RogertEbert.com, 17.3.2017, http://www.rogerebert.com/reviews/song-to-song-2017.
[4] vgl. Abeltshauser, Thomas: Kritik zu Song to Song, in: epd Film, 21.4.2017, http://www.epd-film.de/filmkritiken/song-song.
[5] s. https://www.rottentomatoes.com/celebrity/terrence_malick.
[6] vgl. Travers, Peter: 'Song to Song' Review: Terrence Malick's Austin-Music Movie Is One Texas Turkey, in: Rolling Stone, 15.3.2017, http://www.rollingstone.com/movies/reviews/peter-travers-song-to-song-movie-review-w471947.
[7] vgl. Zoller Seitz, Internet.
[8] ebd.
[9] vgl. Leigh, Danny: Is Terrence Malick ahead of his time or out of date?, in: The Guardian, 9.3.2017, https://www.theguardian.com/film/2017/mar/09/is-terrence-malick-ahead-of-his-time-or-out-of-date.
[10] Hooton, Christopher: Terrence Malick's Song to Song film review: A masterpiece, life-changing and other superlatives I stand by, in: Independent, 11.3.2017, http://www.independent.co.uk/arts-entertainment/films/reviews/terrence-malick-song-to-song-review-2017-ryan-gosling-rooney-mara-michael-fassbender-natalie-portman-a7624316.html.
[11] vgl. Dargis, Manohla: Review ‘Song to Song‘. Terrence Malick’s latest, beautiful puzzle, in: The New York Times, 16.3.2017, https://www.nytimes.com/2017/03/16/movies/song-to-song-review-terrence-malick.html.
[12] vgl. o.A.: „Song to Song“ von Terrence Malick. Gosling, Portman & Co. – Star-Aufgebot zieht durch Austin, in: NWZ Online, 19.5.2017, https://www.nwzonline.de/kultur/gosling-portman-co-star-aufgebot-zieht-durch-austin_a_31,3,12215089.html.
[13] vgl. Dargis, Internet.
[14] vgl. Brody, Richard: “Song to Song”: Terrence Malick’s Romantic Idealism, in: The New Yorker, 16.3.2017, http://www.newyorker.com/culture/richard-brody/song-to-song-terrence-malicks-romantic-idealism.
[15] ebd.: “Malick makes art – his art – the subject of the film.”
[16] vgl. Zoller Seitz, Internet.
[17] So fielen in Song to Song neben Christian Bale auch Benicio del Toro und Haley Bennett nebst anderen der Schere zum Opfer, vgl. Donnelly, Matt: Christian Bale, Benicio del Toro, Haley Bennett All Cut From Terrence Malick’s ‘Song to Song’ at SXSW, in: The Wrap, 10.3.2017, http://www.thewrap.com/christian-bale-benicio-del-toro-haley-bennett-cut-terrence-malicks-song-song-sxsw/.
[18] vgl. Dargis, Internet.
[19] vgl. Zoller Seitz, Internet.
[20] vgl. Chang, Justin: Terrence Malick's 'Song to Song' finds beauty, frustration and hope in the Austin music scene, in: Los Angeles Times, 16.3.2017, http://www.latimes.com/entertainment/movies/la-et-mn-song-to-song-review-20170316-story.html.
[21] vgl. Brody, Internet.
[22] vgl. Dargis, Internet.
[23] vgl. Chang, Internet.
[24] Oder erst, wie so viele Künstler, nach seiner Zeit gewürdigt wird, wie Danny Leigh in den Raum wirft: “It may well be that he is now working so far ahead of the curve that we will only realize how great his later films were shortly before we all die”, vgl. Leigh, Internet.
[25] vgl. Chang, Internet.

[26] ebd.


Szenenbilder “Song to Song”© Studio Canal Filmverleih. Alle Rechte vorbehalten.

What comes around, goes around

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Die Schule, rückblickend für viele mit die schönste Zeit des Lebens, kann aus der Perspektive der Jugendlichen selbst allerdings oft eher als Tortur wahrgenommen werden. So wird laut einer neuen PISA-Studie in Deutschland „fast jeder sechste 15-Jährige regelmäßig Opfer von teils massivem Mobbing an seiner Schule“[1]. Marika Liebsch spricht von einem „Massenphänomen“[2], welches in der Gegenwart auch immer stärker in soziale Medien verlagert wird. Mobbing bezieht sich dabei auf andere Personen ausgeübten Psychoterror, „ausgelöst durch nicht gelöste Konflikte“[3]. Ein Thema, mit dem sich auch die japanische Mangaka Ōima Yoshitoki in ihrer Manga-Serie Koe no Katachi auseinandergesetzt hat.

Im vergangenen Jahr adaptierte die Regisseurin Yamada Naoko Koe no Katachi– übersetzt zu “The Shape of My Voice”, international jedoch als A Silent Voice vertrieben – in einem Kinofilm. Und folgte darin der Geschichte von Nishimiya und Ishida, zweier Jugendlicher, die eine bewegte Schulzeit miteinander erlebt haben. So ist Ishida (Irino Miyu) ein populärer Unruhestifter in seiner 6. Klasse, in die eines Tages auch Nishimiya (Hayami Saori) versetzt wird. Statt einer üblichen kurzen Vorstellung vor ihren Mitschülern zückt Nishimiya ihren Block – da sie taub ist, möge die Klasse doch bitte diesen als primäres Kommunikationsmittel nutzen. Was die Kinder anfangs machen, ehe Ishidas Hänseleien ausarten.

So äfft er sie zuerst nach, da Nishimiya beim Vorlesen ihre „eigene Stimme nicht gut kontrollieren“ kann und ihr die Sprachmelodie fehlt [4], später wirft er ihren Dialog-Block in den Schulbrunnen. Zeigt Ishida keine Bereitschaft, auf Nishimiya zuzugehen, geben die im Verlauf auch Mitschüler wie Ueno (Kaneko Yūki) mit der Zeit auf. Für eine kurze tägliche Übungseinheit in Gebärdensprache hat Ueno kein Verständnis. Zwar sei es für Nishimiya leichter, mit der Gebärdensprache zu kommunizieren, für sie selbst, so Ueno, ist es jedoch weniger kompliziert, in den Block der Mitschülerin zu schreiben. Zwar findet Nishimiya in der bereitwilligen Sahara (Ishikawa Yui) eine Freundin, die wechselt aber kurz darauf die Schule.


Als Ishida und Ueno einige von Nishimiyas Hörgeräten kaputt machen, schreitet schließlich die Schule ein. Ishida wird vor versammelter Klasse an den Pranger gestellt, verweist auf die anderen Schüler der Klasse und grenzt sich dadurch als diese seine Schuldzuweisung ablehnen, von ihnen ab. Fortan ist er es, der von der Klasse gemobbt wird, während seine Mutter das Ersparte von der Bank abhebt, um Nishimiyas Mutter die Hörgeräte zu ersetzen. Der Bully wird plötzlich selbst gemobbt – kein Widerspruch. So fand eine Tokioter Studie von 2013 heraus, dass von 9.000 befragten Schülern mit 46,9 Prozent fast die Hälfte angab, bereits sowohl Opfer von Mobbing als auch dessen Verursacher gewesen zu sein [5].

“You took it too far”, kriegt Ishida von einer Mitschülerin gesagt, als er einmal Nishimiya ein Hörgerät aus dem Ohr reißt und sie dabei verletzt. Er weist sicher zurecht darauf hin, dass die anderen auch nicht nett zu dem tauben Mädchen gewesen seien. Und hier liegt mit eines der Probleme von Schulmobbing in Japan. Dort spielt die Gruppenkultur eine wichtige Rolle [6]. “You have to fall in line with other people”, verriet die 17-jährige Nanae Munemasa in einem CNN-Artikel [7]. Wer sich nicht anpasse, werde ausgegrenzt oder gemobbt [8]. Aus dem Grund schauen die anderen Schüler nur wohlwollend zu, wenn ein Mitschüler gemobbt werde – um nicht selbst durch Aufbegehren zum nächsten Opfer zu geraten [9].

In Japan läuft Mobbing unter dem Wort “ijime”, etwa 80 Prozent solcher Vorfälle drehen sich darum, dass sich eine ganze Klasse gegen einen Einzelnen wende [10]. Die Gruppe sei das Problem, schildert der Lehrer Eryk Salvaggio, der in Japan unterrichtet hat [11]. Er selbst erlebte, wie ein Schüler aufgrund seiner Sprachweise lächerlich gemacht wurde. Als er seine japanische Kollegin fragte, warum sie dies nicht unterbinde, verwies die auf den Wunsch des Schülers. Er würde wütend werden “because the teacher is acknowledging that he is different”[12]. Kinder mit einer Behinderung sind angesichts des Konformitätsgedankens besonders für Mobbing gefährdet, da sie aus der Masse herausstechen.


Rund sechs von zehn Kindern mit Entwicklungsstörungen seien Opfer von ijime, fand ein Forscher schon im Jahr 1998 heraus [13]. Die Zahlen bestätigen jedoch, dass ijime generell in Japan zu Tage tritt, nicht nur bei den Schülern mit Behinderungen. Etwa zwei Drittel der Schüler waren im Jahr 2014 Opfer von Mobbing, wie das Bildungsministerium herausfand [14]. Yamada konzentriert ijime in A Silent Voice jedoch konkret auf den Fall von Nishimiya und später Ishida. Letzterer akzeptiert sein Stigma in gewisser Weise als soziale Bestrafung für sein Fehlverhalten. “I need to bear the sins and I need to be punished for it”, erklärt die Figur, während sie all das erleidet, was sie zuvor Nishimiya hat spüren lassen.

Die Figur vollzieht somit relativ früh in der Geschichte eine (erste) Katharsis, während der Film einige Jahre in die Zukunft springt. Inzwischen in der Oberstufe trifft Ishida erneut auf Nishimiya – und versucht sich mit ihr anzufreunden. Er hat seither Kurse in Gebärdensprache genommen, als hätte er geahnt (oder gehofft), erneut auf sein ehemaliges Opfer zu treffen. Seine Annäherungsversuche werden jedoch von Yuzuru (Yūki Aoi), Nishimiyas kleiner Schwester, die Ishida aufgrund ihrer Aufmachung zuerst für deren Freund hält, torpediert. Ehe Ishida seine gute Intention beweisen kann, indem er Nishimiya mit Sahara vereint und sich selbst mit dem unbeliebten Nagatsuka (Ono Kenshō) anfreundet.

Auch auf Ueno trifft Ishida zufällig, die sich jedoch weniger als er selbst geändert hat. Sie hat Nishimiya nie verziehen, dass deren Opferrolle jene Clique um sie, Ishida und einige andere in der 6. Klasse sprengte. “If only Nishimiya hadn’t shown up. We all would have been happy”, ist sie überzeugt. Ein Umstand, der auch Nishimiya selbst im Verlauf deutlich wird. Nicht nur, dass Ishida damals durch sein Mobbing ihr gegenüber seine Freunde verlor, sondern auch nun nicht bereit ist, diese wieder zu akzeptieren. Auch weil die sich im Gegensatz zu ihm nicht ihrem ijime-Fehlverhalten – ob passiver oder aktiver Natur – gestellt haben. Was bei Nishimiya schließlich alte Depressionen und Suizidgedanken erweckt.


Damit ist sie nicht alleine, zeigt A Silent Voice doch auch Ishida kurz vor dem Selbstmord, nachdem er jenes Geld verdient hat, dass seine Mutter einst sein Verhalten in der Schule gekostet hat. Mit ijime und Jugend-Suizid behandelt Yamada für einen oft unbeschwerten Anime zwei sehr ernste und sozial gewichtige Themen in der japanischen Kultur. Denn Japan weist eine der höchsten Selbstmordraten der Welt auf [15], die speziell bei Jugendlichen auftritt. So war im Jahr 2014 die Haupttodesursache der 10- bis 19-Jährigen in Japan die Selbsttötung [16]. Zwischen 1972 und 2013 nahmen sich 18.048 japanische Jugendliche das Leben [17]– umgerechnet sind das im Schnitt etwa 440 im Jahr.

Hauptursächlich für die Suizide ist dabei die Schule, sei es der Stress oder eben das Mobbing [18]. Entsprechend belegen die Zahlen, dass die meisten japanischen Schüler sich am 1. September des Jahres das Leben nehmen – dem ersten Schultag nach den Sommerferien [19]. In Japan hat Suizid dabei eine andere kulturelle Bedeutung als im Westen, ist weniger wie im Christentum eine Sünde, vielmehr ein Akt, um Verantwortung zu übernehmen [20]. Der Prozess der Depression ist in A Silent Voice schleichend, weder für Ishidas noch Nishimiyas Wunsch nach Selbsttötung streut Yamada großartig Anzeichen. Genauso wie der Film letztlich kein Suizid-Drama ist, sondern eines der Selbstakzeptanz.

Obschon Nishimiya und Ishida die Hauptfiguren sind, ist es Ueno, deren Emotionen Yamada vielleicht am besten Ausdruck verleiht. Einerseits aufgrund ihres Verhaltens fraglos am unsympathischsten gezeichnet, erscheint der Zugang gerade zu ihr am einfachsten, da sie ihrem Innenleben im Gegensatz zu den anderen Charakteren Ausdruck verleiht. Eingangs sehen wir, wie Ueno sich aufrichtig um Nishimiya bemüht, ehe sich ihr Verhalten ändert. “When something happened, you just apologized straight away”, wirft Ueno später Nishimiya vor. “That’s why I changed how I did things.” Anstatt eine Reaktion zu zeigen, so der Vorwurf der anderen, versteckte sich Nishimiya stets hinter ihrer Taubheit.


Ähnlich scheint auch der Frust seitens Ishida in der 6. Klasse begründet zu sein. “If you have a problem with this, say something”, fordert er Nishimiya einmal auf. Doch die lächelt nur sanft und entschuldigt sich. Ebenjener Impuls, sich stets zu entschuldigen, anstatt für sich einzutreten, war mitverantwortlich für Nishimiyas ijime. “People like you who only think in their heads”, ätzt Ueno. Und man kann die Figur irgendwo verstehen – und Nishimiya die Reaktion wohl auch. “I don’t hate you”, gesteht sie gegen Ende in einer emotionalen Szene Ueno. “I hate myself.” Was nicht heißt, dass sie deshalb selbst Schuld an ihrer Opferrolle hat – aber sie wohl durch ihr passives Verhalten in gewisser Weise mitgetragen hat.

Somit müssen sich alle Figuren mit ihrem Verhalten auseinandersetzen: Täter und Opfer, von Ishida über Nishimiya bis hin zu Sahara und anderen damaligen Mitschülern wie Kawai (Han Megumi). A Silent Voice ist dabei angesichts des Themas natürlich ein gerade im ersten Akt mitunter quälender und bedrückender Film. Aber zugleich auch ein berührender, optimistischer und unbeschwerter Vertreter seines Genres. Bevölkert mit solch liebevollen Figuren wie der aufopferungsvollen Yuzuru oder Ishidas gutmütiger Mutter und jeder Menge Platz für humorvolle Momente trotz der depressiven Themen und Erlebnisse, die die Charaktere im Laufe der zweistündigen Geschichte durchmachen müssen.

Mit rund 130 Minuten läuft A Silent Voice jedoch etwas lang, dabei umfasst Yamadas Adaption nicht einmal die gesamte Serie von Ōimas Manga. Gerade im Übergang vom zweiten zum dritten Akt schleichen sich leichte Längen ein, sodass eine um 20 Minuten kürzere Laufzeit dem Film sicher zum Vorteil gereicht wäre. Dennoch unterhält Yamada sehr gut, balanciert geschickt die Stimmungen und Töne und schafft es, gewichtigen Themen eine Stimme zu verleihen. Selbst wenn der Film nicht wirklich erörtert, woraus zumindest Ishidas Ausgangsmobbing resultiert. “Can we be friends?” ist eine Frage, die in A Silent Voiceöfters gestellt wird. Am Ende des Films bleib nur die Gegenfrage: Wie könnte man nicht?


Quellenangaben:

[1] vgl. o.A.: Mobbing – ein großes Problem an deutschen Schulen, in: Tagesschau.de, 19.04.2017, https://www.tagesschau.de/inland/pisa-studie-109.html.
[2] vgl. Liebsch, Marika: Mobbing in der Schule, in: Planet Wissen, 31.01.2017, http://www.planet-wissen.de/gesellschaft/kommunikation/konflikte/pwiemobbinginderschule100.html.
[3] ebd.
[4] vgl. Harter, Judith: Gehörlose können nicht sprechen, in: Gehörlosblog, 01.01.2012, http://www.gehoerlosblog.de/gehorlose-konnen-nicht-sprechen.
[5] vgl. o.A.: Bullying in Japan, in: NoBullying.com, 30.06.2016, https://nobullying.com/bullying-in-japan-2/.
[6] vgl. o.A.: Child suicide in Japan: the leading cause of death in children, in: Humanium. Together for Children’s Rights, 27.02.2017, http://www.humanium.org/en/child-suicide-in-japan-the-leading-cause-of-death-in-children/.
[7] vgl. Wright, Rebecca: Japan's worst day for teen suicides, in: CNN, 01.09.2015, http://edition.cnn.com/2015/09/01/asia/japan-teen-suicides/.
[8] ebd.
[9] vgl. o.A.: Child suicide in Japan: the leading cause of death in children, Internet.
[10] vgl. Salvaggio, Eryk: On Being Bullied in Japan, in: This Japanese Life, 12.6.2013, https://thisjapaneselife.org/2013/06/12/japan-ijime-bullies/.
[11] ebd.
[12] ebd.
[13] vgl. Mithout, Anne-Lise: Children with disabilities in the Japanese school system: a path toward social integration?, in: Waldenberger, Franz (Hrg.): Contemporary Japan. Journal of the German Institute for Japanese Studies Tokyo, 2016, S. 165-184, hier S. 176f.
[14] vgl. o.A.: Bullying in Japan, Internet.
[15] “Japan’s overall suicide rate is roughly 60 percent higher than the global average, a 2014 World Health Organization report noted”, vgl. Lu, Stephanie: The mystery behind Japan’s high suicide rates amongst kids, in: The Wilson Quarterly, 22.10.2015, https://wilsonquarterly.com/stories/the-mystery-behind-japans-high-suicide-rates-among-kids/.
[16] vgl. Oi, Mariko: Tackling the deadliest day for Japanese teenagers, in: BBC News, 31.08.2015, http://www.bbc.com/news/world-asia-34105044.
[17] vgl. Wright, Internet.
[18] vgl. o.A.: Bullying in Japan, Internet.
[19] vgl. Wright, Internet.
[20] vgl. o.A.: Bullying in Japan, Internet.


Szenenbilder “A Silent Voice”© Anime Ltd. All Rights Reserved.

Abyss of Light

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Wo kommen wir her? Und wo sollen wir hin? Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Seins suchen viele Menschen in der Religion. Im Glauben an eine höhere externe Macht, die für allen Ursprung verantwortlich ist. Auch Terrence Malicks jüngere Werke wirkten oftmals christlich oder neo-christlich konnotiert, standen sowohl in The Tree of Life als auch in To the Wonder die Auseinandersetzung der Figuren mit dem christlichen Gott und seiner Religion im Fokus. In Malicks Voyage of Time nun taucht Religion zwar auch auf, allerdings nicht als Quelle des Ursprungs, sondern als Produkt. Zwar besitzt die Dokumentation durchaus eine Spiritualität, die für Susanne Ostwald „in tiefem Naturglauben und Bewunderung für die Schöpfung wurzelt, jedoch ganz aus dem Geist der Wissenschaft“[1].

Der Film ist eine weitergedachte Variation der 17-minütigen Schöpfungs-Passage aus The Tree of Life, seiner Zeit von Douglas Trumbull konzipiert. Bereits dort fanden sich Bildmotive, die Malick für Voyage of Time– nunmehr durch Dan Glass – recycelt. Von der Entstehung der Erde und ihres Trabanten in den Anfängen unseres Solarsystems über Jupiter und Io zu im Meer schwebenden Quallen und Bildern aus dem Antelope Canyon sowie von Lake Powell in den USA. Ähnlich wie in The Tree of Life hören wir dazu bisweilen eine weibliche Stimme aus dem Off, statt Jessica Chastains Film-Mutter nun Cate Blanchett, die wiederholt eine Art kosmische „Mutter“ anspricht. Wer genau mit wem kommuniziert, ist unklar. Ob die Natur mit dem Universum oder das Leben mit der Schöpfung – zweitrangig.


“Mother. You walked with me then. In the silence. Before there was a world. Where nothing was”, flüstert eingangs Cate Blanchett, während wir eine schwarze Leinwand sehen. In gewisser Weise inszeniert Malick fortan das Leben als eine Makro-Version des Menschen in dessen existentialistischem Konflikt. Immer wieder unterbrechen Videoaufnahmen niedriger Qualität aus unserer Gesellschaft die naturalistischen Bilder. Von Bettlern und Armen, aber auch von Hochzeiten und Religionsprozessen. “Mother. Where are you?“, fragt dabei Blanchetts Stimme. Als “riddle to myself” bezeichnet sie sich und will wissen: “Am I not your child?” Es sind andere, fordernde Fragen als in den menschenarmen Szenen unseres Planeten. Doch beide adressieren scheinbar dieselbe Mutter.

Auf die Schwärze des Nichts folgt der Urknall, die Ausweitung des Universums. Wie Synapsen breitet es sich aus, wirkt stellenweise wie der Blick in ein menschliches Gehirn. Nebulae von anmutiger Schönheit vereinnahmen die Leinwand, wir sehen die Geburt des Solarsystems, im Dunkel ragen Erde und Mond heraus. Unser Planet nimmt Gestalt an, wo zuerst Magma pulsierte, bringen bald darauf die Meere Leben hervor. Einzeller. Ein Fisch, der nach Luft schnappt. Später Dinosaurier, die in einem Meteoriteneinschlag ihr Ende finden. Filmte Malick diesen in The Tree of Life noch aus dem Weltall, quasi mit göttlicher Sicht, so befinden wir uns diesmal auf der Erde selbst. Ein ewiger Kreislauf von Selbsterneuerung, in dem der Tod nie das Ende, sondern einen Anfang darstellt.


“Nature. Who am I to you?”, fragt Blanchett da. Und konstatiert: “You devour yourself. Only to give birth to yourself again.” Wie üblich für das Schaffen des texanischen Regisseurs faszinieren ihn die Fragen mehr als die Antworten. Und wie üblich stößt der Auteur damit wieder einmal seine Kritiker vor den Kopf. Das sinnierende Voice-Over ist inzwischen Malicks Markenzeichen, “the relentlessly self-interrogating style” ist sein “preferred mode of verbal expression”[2]. Doch “his manner of wide-eyed rhetorical inquiry” ist für andere wie Lodge “beginning to feel obtusely banal”[3]. Sein über Jahrzehnte zusammengetragenes Passions-Projekt verkomme zu einem “hugely disappointing swing and miss”[4] und stehe sinnbildlich für “the creative vacuum his career has been headed for lately”[5].

Unzweifelhaft ist dagegen die Kraft der Bilder, die in Voyage of Time von Paul Atkins statt wie zuletzt üblich vom Triple-Oscarpreisträger Emmanuel Lubezki stammen. Scott sieht im Ergebnis eine “extraordinary visual symphony”[6], wenn Malick Momente nachzeichne “as if he had drawn them not from his mind but from some repository of celestial memory”[7]. Abseits der Videoaufnahmen der menschlichen Gesellschaft fängt Atkins wunderschöne Landschaftsaufnahmen ein und lässt zudem mittels Glass’ Nachbau und Archivbildern von NASA und Co. von (mikro-)kosmischen Aufnahmen die Grenzen zwischen Motiven kosmischer und menschlicher Schöpfung verschwimmen. Die Flammen eines Hausbrandes gehen da dann audiovisuell kongenial in das Züngeln von Magma über.


“A tide of pure sound and image”, beschreibt Chang, “a documentary poem”[8]. Doch schöne Bilder alleine reichen vielen nicht, wenn sie für sich stehen sollen [9]. “Gorgeous but hollow”, ist das Resultat [10] für Lodge und Pulver bemängelt “it’s difficult to process what exactly we are seeing”[11]. Sehen wir die Geburt einer Galaxie oder „nur“ eine Zellteilung? Verwöhnt von auf das Verständlichste herunter gebrochenen Naturdokus liefere Voyage of Time stattdessen “general poetic speculations instead of specific information about what we’re looking at”[12]. Die Dissonanz zwischen uneindeutigen Bildern und dem fragenden Voice-Over verstört viele. Der Film verkomme somit zum „Kasten voller Postkarten“[13] und sei “an aesthetic experience rather than a particularly informative one”[14].

Auch Joachim Kurz stieß sich am Voice-Over. „Abgesehen von einer gewissen Grundstimmung ergibt er kaum wirklich Sinn, transportiert keinerlei Kontext oder Information“, sei eher „eine Hymne an die Erde, das Leben, das Mütterliche als schöpferisches Grundprinzip“[15]. Für Hanns-Georg Rodeck ist das Problem der Bilder „ihre philosophische Überhöhung“ sowie „die Bedeutungskonstruktion, die Behauptung eines tieferen Sinns, der sich nicht erschließt und am Rande der Selbstparodie entlang schrammt“[16]. Ein Ausmaß an Repetition “that amounts to the thematic resonance of a fortune cookie”, ätzt Chitwood [17]. Es sei ein leichtes, den Film zu verspotten und zu parodieren, räumt Brody ein [18]. Erinnert jedoch zugleich, “but that’s true of any intensely serious work of art”[19].


Generell sind die Bilder ohnehin weniger uneindeutig als ihnen vorgeworfen wird. Zumal Malick seine Reise durch die Zeit chronologisch vornimmt und seine Faszination “with the cosmic and ephemeral dimensions of time in individual stories” auslebt [20]. Auch Cate Blanchett fragt da an einer Stelle: “Where are you leading me?” Als sei dem Leben nicht vollends klar, was die Schöpfung für es vorgesehen hat. Dass der Voice-Over eine gewissen Eigentümlichkeit besitzt, ist unbestreitbar. Und ebenfalls typisch für den texanischen Regisseur. “I am life. Restless. Unsatisfied”, erkennt der Film da. “Speak with me”, fordert er ein paar Sätze später und fragt: “What am I? Who brought me here?” Mitunter wirkt es, als handele es sich nicht nur um eine, sondern mehrere Stimmen des Lebens.

Getreu Richard David Precht: Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Es sind Fragen, die verhallen. Da unterscheidet sich Voyage of Time nicht vom wahren Leben. Für Rodeck huldigt Malick „der Natur ohne den Menschen, der Schöpfung ohne einen Schöpfer“[21], dagegen ist Gleiberman überzeugt, der Regisseur “sees God’s touch in the glory and the strangeness of every natural surface”[22]. Die Wahrnehmung verschwimmt, zwischen Natur, Gott, Urmutter – viele Namen für ein und denselben Adressaten, wie es scheint. Wenn die Menschen als Aboriginals dann gegen Ende auftauchen, unterscheidet sie nicht allzu viel von ihren Artgenossen der Gegenwart aus den eingestreuten Videoclips. Allenfalls die Unbekümmert- und Natürlichkeit ihrer Anfänge, die seither verloren ging.


“Philosophically considered, the universe is composed of Nature and the Soul”, hieß es bei Emerson [23]. Vielleicht ist also der vokalisierte Austausch in Malicks Film weniger Dialog als Monolog. Eine losgelöste Schöpfung, nicht kontrolliert von einer Mutter, sondern Bestandteil dieser. “You give without asking”, konstatiert das Voice-Over. Und will wissen: “Does your goodness never fail?” Ein immer währender Erneuerungsprozess des Fortschritts. In welchem die Antwort auf Sinn-Fragen weniger relevant ist, als das Äußern dieser Fragen selbst. Den Film solle der Zuschauer besser als Abstraktum würdigen, realisiert auch Pulver schließlich [24]. Ist er doch weniger National-Geographic-Dokumentation als vielmehr jene Form von Essayfilm, der sich der Regisseur zuletzt widmete.

Eine Arbeitsweise, mit der er immer mehr Kritiker schafft, wurde doch bereits seine Trilogie To the Wonder, Knight of Cups und Song to Song zuletzt verlacht. “Malick seeks a beauty beyond style, outside the realm of artistic creation”, erkennt Brody [25]. “He tries to turn images into vessels for that beauty.”[26] Eine Schönheit, die zumindest Einzelne zu würdigen wissen. So sehen in Voyage of Time Kritiker wie Chang “a feast for the eyes and a balm for the soul in these angry, contentious times”[27]. Für Ostwald ist der Film daher ein „Kunstwerk von überwältigender Kraft (…) die Quintessenz von Malicks Schaffen und Denken“[28]. Selbst wenn Malick keine Antworten auf die großen Fragen des Lebens bereithält, fühlt es sich sicherer an, die Reise mit ihm gemeinsam zu bestreiten.



Quellenangaben:

[1] vgl. Ostwald, Susanne: Den Ursprung allen Seins schauen, in: NZZ, 08.09.2016, www.nzz.ch/feuilleton/kino/73-internationales-filmfestival-venedig-den-ursprung-allen-seins-schauen-ld.115502.
[2] vgl. Chang, Justin: Terrence Malick’s “Voyage of Time“ offers a gorgeous Imax history of the universe, in: Los Angeles Times, 06.10.2016, www.latimes.com/entertainment/movies/la-et-mn-voyage-time-imax-review-20160930-snap-story.html.
[3] vgl. Lodge, Guy: Voyage of Time, Life’s Journey, in: Time Out London, 07.09.2016, www.timeout.com/london/film/voyage-of-time-lifes-journey.
[4] vgl. Chitwood, Adam: Voyage of Time, Life’s Journey Review: Terrence Malick Goes Round and Round, in: Collider, 09.09.2016, http://collider.com/voyage-of-time-lifes-journey-review/.
[5] vgl. James, Nick: Voyage of Time, Life’s Journey. First look, in: Sight & Sound, 06.04.2017, www.bfi.org.uk/news-opinion/sight-sound-magazine/comment/festivals/venice-2016/voyage-time-life-s-journey-first-look.
[6] vgl. Scott, A.O.: Voyage of Time, the Cosmology of Terrence Malick (the Short Version), in: The New York Times, 06.10.2016, www.nytimes.com/2016/10/07/movies/voyage-of-time-review.html.
[7] ebd.
[8] vgl. Chang.
[9] “Malick has provided a dazzling flow of quite astonishing images, but provided little in the way of context”, vgl. Pulver Andrew: Voyage of Time: Life's Journey review – Terrence Malick's eye-popping history of the universe, in: The Guardian, 06.09.2016, www.theguardian.com/film/2016/sep/06/voyage-of-time-review-terrence-malick-venice-film-festival-2016.
[10] vgl. Lodge.
[11] vgl. Pulver.
[12] vgl. Abrams, Simon: Voyage of Time. The IMAX Experience, in: RogerEbert.com, 08.10.2016, www.rogerebert.com/reviews/voyage-of-time-the-imax-experience-2016.
[13] vgl. Kilb, Andreas: Die Seele passt in kein Universum, in: FAZ.net, 08.09.2016, www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/filme-von-terrence-malick-und-pablo-larrain-in-venedig-14425037.html.
[14] vgl. Pulver.
[15] vgl. Kurz, Joachim: Venedig 2016: “Voyage of Time: Life’s Journey” von Terrence Malick, in: kino-zeit.de, 07.09.2016, www.kino-zeit.de/blog/venedig/venedig-2016-voyage-of-time-life-s-journey-von-terrence-malick.
[16] vgl. Rodeck, Hanns-Georg: Was macht man im KZ eigentlich mit Selfie-Sticks?, in: Die Welt, 07.09.2016, www.welt.de/kultur/kino/article157987617/Was-macht-man-im-KZ-eigentlich-mit-Selfie-Sticks.html.
[17] vgl. Chitwood.
[18] vgl. Brody, Richard: Terrence Malick’s Metaphysical Journey Into Nature, in: The New Yorker, 08.10.2016, www.newyorker.com/culture/richard-brody/terrence-malicks-metaphysical-journey-into-nature.
[19] ebd.
[20] vgl. Scott.
[21] vgl. Rodeck.
[22] vgl. Gleiberman, Owen: Terrence Malick’s ‘Voyage of Time: Life’s Journey’, Variety, 06.10.2016, http://variety.com/2016/film/reviews/voyage-of-time-review-venice-film-festival-terrence-malick-1201852631/.
[23] vgl. Emerson, Ralph Waldo: Nature (1836), in: Ders.: Nature and Other Essays, Mineola 2009, S. 1-34, hier S. 2.
[24] vgl. Pulver.
[25] vgl. Brody.
[26] ebd.
[27] vgl. Chang.
[28] vgl. Ostwald.


Szenenbilder “Voyage of Time”© France Televisions Distribution. All Rights Reserved.

Nothing’s important

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Venedig, Berlin, Cannes – innerhalb eines Jahres machte Regisseur Krzysztof Kieślowski von 1993 bis 1994 den Filmfestival-Hattrick mit Vorführungen seiner Trois Couleurs-Trilogie perfekt. Und verewigte sich mit dieser quasi im Arthaus-Kino-Olymp, sollte doch Rouge sein finaler Film sein, ehe Kieślowski zwei Jahre später mit 55 bereits starb. Trois Couleurs zählt neben der zehnteiligen Dekalog-Reihe vermutlich zu Kieślowskis Magnum opus. Benannt nach den Farben der französischen Nationalflagge wird jedem der drei Filme eine der Ideen der französischen Revolution zugeschrieben: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Dabei interessiert sich Trois Couleurs jedoch weniger für Politik als für Personen.

Was Bleu, Blanc und Rouge eint, ist die Entfremdung ihrer jeweiligen Hauptfigur. Alle drei sind oder werden getrennt von ihren Liebsten und müssen sich in der Folge neu finden. Selbst wenn gemeinhin die Themen der Revolution wie Freiheit mit Bleu, Gleichheit mit Blanc und Brüderlichkeit mit Rouge identifiziert werden, sehen sich letztlich alle drei Protagonisten mit jeder dieser Ideen auf die eine oder andere Weise konfrontiert. “My luck’s run out”, klagt da Karol (Zbigniew Zamachowski) in Blanc als er im Scheidungsprozess mit Gattin Dominique (Julie Delpy) nicht nur seine Ehe verliert, sondern auch den gemeinsamen Beauty Salon. Mit ihrem Glück dürften aber genauso die beiden anderen Hauptfiguren hadern.


Allen voran Julie (Juliette Binoche), die zu Beginn von Bleu ihren Mann und ihre Tochter bei einem Autounfall verliert. Nach einem gescheiterten Suizidversuch begibt sich Julie eher zaghaft in einen Trauerprozess zur Trauma-Verarbeitung. Mit dem Tod ihres Mannes hat sie ihre romantische Freiheit wiedererlangt („bis dass der Tod euch scheidet“), mit dem der Tochter wiederum die Freiheit ihrer biologischen Verpflichtung als Mutter. Eine Freiheit, mit der die Figur in der Folge jedoch wenig anzufangen weiß – oder will. Nichts bleibe ihr mehr, sagt Julie bei einem Besuch ihrer dementen Mutter (Emmanuelle Riva). “I want no possessions, no memories, no friends, no lovers – they’re all traps”, beschließt die junge Witwe.

“Nothing’s important”, sagt Julie an einer Stelle. “It can never be the same”, an einer anderen. Wenn ein Teil eines Ganzen zurückbleibt, wird es nicht selbst zu einer Einheit, sondern bleibt ein Teilchen. “You gotta always hold on to something”, rät Julie ein Straßenmusiker, dabei hat Julie ihr Bestmögliches getan, um sich von allem und jedem zu separieren. Dem Opfer einer nächtlichen Attacke verweigert sie Zuflucht in ihrer Wohnung, als ihre Nachbarn eine promiskuöse Mieterin loswerden wollen, verweigert Julie ihnen die hierzu entscheidende Unterschrift. Was die Mieterin als Solidarisierung und Anreiz zur Freundschaft missversteht, ist für Julie nur Ausdruck ihrer Trennung aller sozialen Bindungen.


Der Ratschlag des Straßenmusikers soll sich jedoch bewahrheiten: Julie benötigt etwas, an dem sie sich festhalten kann. In Bleu ist dies ein Musikstück anlässlich der Gründung der Europäischen Union, an dem ihr Mann, ein renommierter Komponist, gearbeitet hatte. Wo Julie aus der Einheit ihrer Familie zum Teilchen degradiert wird, kontrastiert Kieślowski dies mit der Bildung einer Einheit der einzelnen europäischen Staaten. Julie, die insgeheim als treibende Kraft hinter der Komposition vermutet wird, nimmt sich dieser wieder an. Ergreift damit kreativen Besitz, mit Rückbesinnung auf eine Erinnerung, hat in ihrer Nachbarin eine Freundin und lässt sich wieder auf ihre Affäre mit dem Kollegen ihres Mannes ein.

Warum sie weine, fragte Julie nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus ihre Haushälterin. “Because you are not”, erwiderte diese. Wenn Julie also in den Schlussszenen von Bleu endlich weinen kann, vermag sie sich damit als Ausdruck ihrer Reintegration schließlich vollends von ihrer Trauer zu befreien, um einen neuen Abschnitt in ihrem Leben zu beginnen. Dies eint sie ebenfalls mit Karol, der in Blanc zuerst obdachlos mit lediglich zwei Francs in der Tasche am Tiefpunkt angekommen ist. Ehe er im Versprechen seines polnischen Landsmannes Mikołaj (Janusz Gajos), ihn zurück in die Heimat nach Warschau zu schleusen, erstmals wieder einen Funken Hoffnung für einen eigenen Neubeginn verspürt.


Der Szenenwechsel nach Warschau ermöglicht Kieślowski einen vertieften Blick zu der in Bleu bereits angesprochenen EU-Gründung. Angefangen wenn Karol das neue Neon-Zeichen für den Friseursalon seines Bruder bestaunt. “This is Europe now”, erklärt der die Modernisierung. Abseits der Rückkehr in die Heimat strebt der von seinen alten Kunden geschätzte Barbier Karol aber keinen Rückschritt in den Laden seines Bruders an. Nach einem kurzen Intermezzo als vermeintlicher Auftragskiller – von Mikołaj aus unerklärten Gründen auf sich selbst angesetzt – tritt der eher schmächtige Karol eine Stelle als Bodyguard eines lokalen Kleinkriminellen an. Und erhält die Chance, sich selbst finanziell zu verbessern.

Im Zuge des EU-Beitritts von Polen öffnete das Land seinen eisernen Vorhang für den Kapitalismus des Westens. Trostlos-karge Acker gewinnen dadurch auf einmal einen Wert, für Produktionsexpansionen von IKEA und Co. Karol sichert sich einige Grundstücke, verkauft diese gewinnbringend weiter und gründet letztlich eine wohl eher zwielichtige Firma, die sich im Import-Export-Geschäft versucht (“These days you can buy anything”, realisiert Karol). So wie Julie sich in Bleu auf ihre Vergangenheit zurückbesinnen musste, um voranzukommen, ist es in Blanc auch die aus dem Scheitern resultierende Heimkehr von Karol, die es ihm erlaubt, finanziell den nächsten – bzw. eher mehrere – Schritt zu machen.


Karol sehnt sich nach Gleichbehandlung – vor der Anhörung des französischen Scheidungsgerichts, der er durch seine Sprachbarriere nur bedingt folgen kann, als auch in seiner Beziehung zu Dominique. Diese – und das ist mein größter Kritikpunkt – wird in Blanc eher als Sex-Trophäe denn echte Figur eingeführt. Der Hauptscheidungsgrund ist, dass Karol unfähig sei, seine Ehe zu vollziehen. Anders gesagt: Er hat Potenzstörungen. Kaum geschieden stürzt sich Dominique also mit einem neuen Mann ins Bett, als Karol anruft, lässt sie ihn durch Stöhnen ihre sexuelle Befriedigung spüren. Erniedrigt beginnt der Ex-Mann nun in Polen einen Rachefeldzug im Stile Alexandre Dumas’, zum Zweck der Gleichstellung.

Als sich Dominique und Karol nach seinem Aufstieg wiedersehen – er lockte sie mit seinem vorgetäuschten Tod und einem angeblichen Erbe nach Polen – sind seine Potenzprobleme dahin. Anders gesagt: Er kann es der geschiedenen Gattin (endlich) so richtig besorgen. Nur um Dominique in ähnliche Abgründe zu stoßen, in denen er sich selbst wiederfand. Zwar als Komödie (oder wie es gerne heißt: Anti-Komödie) inszeniert, entschuldigt das nicht die Darstellung von Dominique, die Kieślowski in Blanc zeichnet und die konträr zu der von Julie oder Valentine (Irène Jacob) in Rouge ist. Karol fehlt jene Brüderlichkeit, die ihm der Regisseur erst im Schlussbild von Rouge erlaubt, die alle drei Filme zusammenführt.


Rouge lässt seine Protagonistin Valentine ebenfalls zum Opfer ihrer Beziehung werden. Als Model in Genf führt Valentine eine Art Fernbeziehung mit ihrem eifersüchtigen Freund, der aktuell in England bei einer Filmproduktion mitwirkt. Als sie einen freilaufenden Schäferhund anfährt, führt sie dies zur Begegnung mit seinem Herrchen, dem Richter a.D. Joseph Kern (Jean-Louis Trintignant). Der, wie sich herausstellt, belauscht heimlich die Telefongespräche seiner Nachbarn, die sich in der Regel um sexuelle Affären drehen. Auf eine Weise fasziniert und doch abgestoßen zugleich, beginnen Valentine und der Richter eine zarte Freundschaft zu entwickeln, die vor allem auf Letzteren immer mehr Einfluss nimmt.

“People have a right to their secrets”, appelliert Valentine einmal an den Richter. Tatsächlich haben viele der Figuren in Trois Couleurs Geheimnisse, sei es die Affäre von Julies Mann mit einer Anwältin in Bleu oder Mikołajs Beweggründe, für sich selbst einen Auftragsmord zu organisieren. Zwar nicht in Rouge thematisiert, ist es Kern natürlich gewöhnt, die Geheimnisse anderer Menschen zu hören, die Jahrzehntelang vor seinem Gericht landeten. Allgegenwärtig lauscht er Gottgleich seinen Nachbarn, interveniert aber nicht, (ver-)urteilt sie höchstens insgeheim. “One can only feel pity for you”, ätzt Valentine. Dabei ist Kern nicht unbedingt weniger zu bemitleiden als Julie, Karol oder in gewisser Weise sogar sie selbst.


Dem Richter geht die Brüderlichkeit, das soziale Verhalten in der Gemeinschaft, ab. Dies wiederum ist wie im Falle von Julie und Karol das Ergebnis eines Verlusts, sodass erst die Bekanntschaft mit Valentine, die ihn in seine Vergangenheit zurückführt, ihm hilft, sich aus dem auferlegten psychologischen Gefängnis zu befreien. “I want nothing”, sagt er in einer Szene des ersten Akts gegenüber Valentine – und fungiert somit auf eine Weise als ein Echo von Julie aus Bleu. Erst durch seine Selbstanzeige gelingt ihm die Rückbesinnung auf Brüderlichkeit und die Gleichstellung mit seinen Nachbarn. Auch wenn Valentine im Fokus steht, ist es der Richter, der im Verlauf zur wahren Hauptfigur von Rouge avanciert.

Valentine wiederum ist eine Art Gegenentwurf zu Julie oder Kern – eine Figur, die sich ihrer Umwelt nicht entziehen kann. Wo Binoches und Trintignants Figuren ihr Heil im Nichts suchen, losgelöst von der Gesellschaft lebend, vermag Valentine weder Kerns verletzten Schäferhund zurückzulassen, noch ihren Freund oder den Richter selbst, als sie von seinem „Hobby“ erfährt. Wenn der ihr am Schluss sagt, sie würde nie vor Gericht landen, weil dieses keine Unschuldigen verfolge, ist dies natürlich nur die halbe Wahrheit. Einerseits ist schwer vorstellbar, dass Valentine jemals ein Verfahren droht, andererseits ist es – wie im Fall von Karol gesehen – aber auch nicht so, dass lediglich schuldige Menschen gerichtet werden.

Kieślowski passte seine Mise en Scène dabei den Titeln der jeweiligen Filme an. So ist Blau die vorherrschende Farbe in Bleu und viele rote Elemente durchziehen Rouge, während Blanc zum Großteil im verschneiten Warschau spielt. Die Filme beginnen jeweils mit einem längeren Tracking Shot, der zugleich auf die Handlung hindeutet: der tödliche Autounfall in Bleu, Karols Rückkehr nach Polen versteckt in Mikołajs Koffer in Blanc oder ein Telefonkabel in Rouge. Letzteres läutet das Thema der Kommunikation ein, die Kern abhört und welche die Beziehungen von Valentine und ihrem Freund sowie der Nebenfiguren von Augustine (Jean-Pierre Lorit) und Kerns Nachbarin Karin (Frédérique Feder) entscheidend definiert.

Trois Couleurs repräsentiert gut Kieślowskis Filmografie, viele der Elemente vereinend, die seine früheren Arbeiten definierten: die Komplexität und Kausalität menschlicher Beziehungen und Schicksale. Gilt in der Regel für viele Rouge als der Höhepunkt (sowohl der Trilogie als auch in Kieślowskis Schaffen), fällt mir selbst der Zugang zu Bleu immer schon am leichtesten. Er wirkt runder und greifbarer, obschon die Freundschaft zwischen Jacob und Trintignant einen unbestreitbaren Charme besitzt. Die Klimax des europäischen Arthaus-Kinos würde ich selbst Trois Couleurs zwar nicht unbedingt zuschreiben wollen, das finales Vermächtnis eines großen (europäischen) Auteurs und Visionärs sind sie aber sicher allemal.



Szenenbilder “Trois Couleurs: Bleu|Blanc|Rouge”© Artifical Eye/Criterion. All Rights Reserved.

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In jüngeren Jahren gab es in Film und Fernsehen eine nostalgische Rückbesinnung auf die Achtziger, am eindringlichsten veranschaulicht vermutlich in der Netflix-Serie Stranger Things. Ein ganz anderes Bild der 1980er Jahre zeichnete derweil Bret Easton Ellis in seinem Roman American Psycho. Darin persifliert er die Kultur jenes Jahrzehnts, vom Yuppietum über die Verbraucherherrschaft bis hin zum Materialismus. Sozialer Aufstieg und Geld markierten in Großstädten das Ziel der jüngeren Menschen zwischen 20 und 40. Erfolgsdruck einer ganzen Generation war die Folge, ausgedrückt in Statussymbolen personeller wie materieller Natur. Entscheidend dabei war eine gewisse Anpassungsfähigkeit an die Normen.

Eben hier tritt die Hauptfigur von American Psycho zu Tage, der 27-jährige Patrick Bateman, Vize-Präsident einer New Yorker Investmentbank, insgesamt eigentlich aber ein rassistischer und misogyner Soziopath und Serienmörder. Bateman ist scheinbar angepasst an seine Umwelt, doch jene Anpassung entpuppt sich als Maske und Deckmantel für seine perversen abscheulichen Verbrechen. Oder auch nicht. Vielleicht sind jene Verbrechen nur Ausdruck von Batemans hoffnungsloser Rebellion gegen das System. „Ein stummer Schrei nach Liebe“, wie Die Ärzte sangen. Ob die Ereignisse in American Psycho real oder fiktiv sind, ist zweitrangig, die offene Interpretation jedoch eine der großen Stärken der Handlung.

Ellis’ Roman von 1991 adaptierte Regisseurin Mary Harron neun Jahre später in American Psycho. Durch den Abstand eines Jahrzehnts setzt die 80er Nostalgie bereits ein, wenn die Hauptfigur Huey Lewis and the News oder Whitney Houston hört. Christian Bale spielt Patrick Bateman, in gewissem Sinne ein Stellvertreter unserer Kultur – wenn schon nicht der heutigen, dann zumindest der damaligen. Oberflächlich betrachtet ist er absolut austauschbar – ein Aspekt, den das Buch noch mehr als der Film betont, indem die Figuren nahe an der Identitätslosigkeit existieren. Das Erscheinungsbild und Gehabe der männlichen Figuren ist oft identisch, ihr Style dominiert von gegeltem Haar, Hosenträgern und Hornbrillen.

Im Buch geht diese Angleichung noch eine Spur weiter, wenn Bateman und sein Kollege Timothy Price derselbe Armani-Mantel schmückt oder Batemans Verlobte Evelyn wie ihre Freundin Courtney ein Krizia-Outfit mit d’Orsay-Pumps aufträgt [1]. Zum vermeintlichen Running Gag gerät daher die Tatsache, dass sich die Figuren kontinuierlich miteinander verwechseln. Insbesondere Patrick Bateman: Ein Kollege grüßt ihn auf der Arbeit mit falschem Namen, sein anderer Kollege Paul Allen (Jared Leto) hält ihn für ihren Mitarbeiter Marc Halberstram. Später begrüßt ihn der Pförtner seines Bürogebäudes mit “Mr. Smith”, während ihn sein Anwalt am Ende für “Davis” hält (“I’m Patrick Bateman (…) don’t you know?”).

Es ist jene normative Konformität, der Wunsch, nicht unangenehm aufzufallen und sich anzupassen, die zum Ende der Geschichte in die Anonymität übersteigert wird. “There is an idea of a Patrick Bateman. Some kind of abstraction. But there is no real me, only an entity, something illusory”, erklärt Christian Bale zu Beginn. “I simply am not there.” Dies kann zum einen natürlich gelesen werden als soziale Maske, hinter der sich Bateman versteckt, um seinen Wahnsinn inmitten der Gesellschaft ausleben zu können. Zum anderen ließe es sich als Hilfeschrei eines Mannes deuten, der keinen Ausweg aus dem sozio-kulturellen Treibsand seiner Zeit sieht. Ein Sog, der ihn wie auch alle anderen bereits vereinnahmt hat.

Immer die schnittigste Frisur und Outfits, die neuste Stereoanlage – in der Welt von American Psycho ist entscheidend, wie jemand wirkt. Nicht, wer er ist. Der übermäßige Narzissmus von Bateman ist nur der Anfang, mit morgendlichem Workout-Programm, Shampoos und Peelings, Maniküre und Pfefferminz-Gesichtsmasken. Hier lecken sich Bateman und Co. die Finger wund nach jenem Fisher-Account, den Paul Allen bei ihrer Firma Pierce & Pierce betreut. Und machen ein Aufhebens um das Layout ihrer jeweiligen Visitenkarten. Diese sind zugleich eines der wenigen Mittel zur Unterscheidung. „Identität scheint sich nur noch über Visitenkarten herzustellen“, so Wolfgang M. Schmitt jun. treffend [2].

Es birgt zugleich eine gewisse Ironie, dass sie alle – von Bateman über Allen und Timothy Bryce (Justin Theroux) sowie Halberstram und van Patten – in ihrer Firma Vize-Präsidenten sind. Was dem Titel jede Relevanz raubt, selbst die eines Statussymbols. Exemplarisch für dieses Gebaren steht dabei das Dorsia – ein ominöses Restaurant mit nahezu unmöglicher Möglichkeit zur Reservierung. Für Bateman und die übrigen Figuren geht es weniger darum, ob das Essen im Dorsia gut und lohnenswert ist, sondern ausschließlich darum, sich damit zu brüsten, dort gewesen zu sein. Verlassen wird sich dabei auf die Meinung anderer, dem Gastronomieführer Zagat oder aktuellen Restaurantkritiken der New York Times.

Der fehlende Individualismus ist in American Psycho omnipräsent. Die Figuren sind derart austauschbar, dass sie mehrere Affären untereinander führen. Bateman schläft mit Courtney, Evelyn (angeblich) mit Bryce, selbst Courtneys Verlobter schwärmt insgeheim für Bateman. Sie alle sind ein wenig „Bateman“: keine echten Personen, eher eine Aura. Anwesend trotz Abwesenheit – erkennbar in einer Weihnachtsfeier, die Evelyn (gespielt von Reese Witherspoon) organisiert. “You’re late”, wirft sie Bateman dort vor. “I’ve been here the whole time”, entgegnet der. “You just didn’t see me.” Was sowohl Ausrede als auch Wahrheit sein kann, jeweils entschuldigt durch ebenjene anonymisierte Konformität.

Bateman stammt eigentlich aus reichem Hause – so reich, dass ihm die Frage gestellt wird, warum er überhaupt arbeitet. “Because I want to fit in”, bringt er als Antwort seine normative Konformität zum Ausdruck [3]. Die Eingliederung ins System ist natürlich nur Vorwand für seine wahre Fassade – sei diese nun leer oder psychotisch. Was genau Bateman arbeitet, bleibt unklar. “You never see him do any work”, bestätigt Mary Harron im Audiokommentar und erklärt dies mit jener Fassade, welche er in Umgebung zu anderen aufrechterhält. Sei er allein, gerate er in Panik, so Harron. “When the mask slips (..) he doesn’t know what to do.” Auf sich allein gestellt fehlt Bateman jemand, an den er sich anpassen kann.

Ähnlich sieht es auch Ellis. “He doesn’t necessarily want to fit in but doesn’t really know what the other options are”, sagte der Autor im Interview mit dem Rolling Stone [4]. Christian Bale selbst beschrieb den Charakter gegenüber Sabotage Times als Fabrikat, “entirely constructed (…) from advertising in the 80s, and from the American concept of what it is to be a winner”[5]. Er ist ein Wall Street Zombie, die mit Ende 20 alles erreicht, aber nichts vorzuweisen haben. Die einen mondänen Lebensstil führen, aber nicht wirklich leben. Erkennbar an Courtney (Samantha Manthis), die überwiegend ihr Dasein im Drogennebel fristet, in einem entscheidenden Moment dann aber doch ihren heimlichen Kinderwunsch äußert.

“I have all the characteristics of a human being”, beschreibt Bateman eingangs. Gier und Lust seien aber im Grunde das einzige, was er verspüre. Die Figur wird voll von Widersprüchen inszeniert. Er lebt die Konformität, im Prinzip könnte “Hip to be Square” von Huey Lewis and the News die Hymne seines Lebens sein. “It’s not just about the pleasures of conformity and the importance of friends, it’s also a personal statement about the band itself”, rezensiert er im Buch wie Film. Wenn Bateman am Schluss mit Evelyn bricht und ihr zugleich die gemeinsamen Freunde überlässt, ist das also der Ausbruch aus der Konformität, der im Anschluss dann in das wahnhafte Finale mündet. Ausscheren aus dem System unerwünscht.

Bateman sehnt sich in dieser leb- und lieblosen Welt vielleicht einfach nur nach Menschlichkeit. Wenn die Figur in einer Restaurantszene in SoHo das Ende des Welthungers propagiert und die Abschaffung der Diskriminierung sowie Apartheid bei Fürsorge für die Obdachlosen plus Gleichberechtigung der Frauen, kann dies natürlich einfach nur Zynismus sein. Oder aber ein authentischer Anlass zur Revolte gegen das System, der dann durch das Gelächter von Bryce am Tisch umgehend gedämpft wird. Er wünsche sich bloß “a meaningful relationship with someone special”, erklärt Bateman später ebenfalls. Ebenjener Schrei nach Liebe wird dabei im Roman noch etwas stärker deutlich als in Harrons Film der Fall.

In Buch wie Film verabredet sich Bateman zu einem Zeitpunkt mit seiner für ihn schwärmenden Sekretärin Jean (Chloë Sevigny). Sie ist die einzige Figur, die scheinbar keine Maske trägt, sondern sie selbst ist. Was zu einer besonderen Beziehung zu Bateman führt. Als Jean im Buch – nicht im Film – diesen am Ende ihres Rendezvous umarmt, verströmt sie „eine Wärme, die mir ungewohnt ist“, heißt es da in Batemans Monolog. „Ich bin es gewohnt, mir alles, was geschieht, so vorzustellen, wie es in Filmen vorkommt.“[6] Dieser Moment aufrichtiger Nähe überfordert ihn, der die Künstlichkeit der Popkultur und seines Umfelds gewohnt ist, derart, dass dies letztlich Jean als eine der wenigen Figuren das Leben rettet.

Die Frage, ob das Gezeigte in American Psycho für Bateman real oder eingebildet ist, beschäftigt die Zuschauer seit Veröffentlichung. Der Film reüssiert, weil er beide Interpretationen zulässt – wenn auch eher unbeabsichtigt für Mary Harron. Sie glaubt an die verübten Morde: “Clearly blood-soaked sheets” beschreibt sie im Audiokommentar zum Beispiel die Bettlaken, die Bateman zur Reinigung bringt. Das Desinteresse dieser konformen Gesellschaft fungiert als Deckmantel für Batemans Taten. Als später ein Privatdetektiv (Willem Dafoe) das Verschwinden von Paul Allen untersucht, erhält Bateman unerwartet ein Alibi für seinen Mord am Kollegen, da er (ironischer Weise von Halberstram) verwechselt wird.

Dies lässt sich wiederum ausdehnen auf jede Sichtung von Paul Allen in London, die ebenso auf einer Verwechslung beruhen kann (die Figur wird direkt in der Auftaktszene von Bateman, Bryce und Co. in einem Restaurant zum Beispiel verwechselt). Selbst wenn Bateman im Verlauf immer eindringlicher gesteht und seine Maske fallen lässt, verpufft dies. “No one listens”, lamentiert er. So wie bei einem Disco-Besuch, als sein Gegenüber “murders and executions” in “mergers and acquisitions” umdeutet oder sein Anwalt sein Geständnis für einen Scherz erachtet. Niemand interessiert die Wahrheit, auch nicht die Maklerin, die am Ende all jene Leichen entsorgt, die Bateman in Paul Allens Apartment hortet.

Interessanter erscheint jedoch die Lesart, dass die Morde nicht real, vielmehr Metaphern für jene Sozial-Satire sind, die Ellis uns hier präsentiert. Dies fängt schon damit an, dass es wenig vorstellbar scheint, dass Bateman den Großteil seiner Morde – im Roman weitaus detaillierter beschrieben – in seinem stets blütenweißen Apartment mit Holzparkett verübt. Oder eine Maklerin tatsächlich mehrere Leichen entsorgt (eine könnte ich ihr noch zugestehen) und sich damit im Falle einer Überführung oder Entdeckung mit- wenn nicht sogar für die Behörden alleinschuldig machen würde. Auch dass der Fisher Account nach Paul Allens Tod an Relevanz verliert, spricht dafür, dass Letzterer nicht tot ist.

Unterstützt wird dies von der oben beschriebenen Roman-Stelle, in der Bateman offenbart, dass er seine Wahrnehmung mit Filmerlebnissen abgleicht. “He takes lessons from videos”, erklärt Harron im Audiokommentar in Bezug auf Batemans Konsum von Pornos und Horror-Filmen, die er aus Unbeholfenheit als Anleitung verstehe. Die aber genauso Anreiz für Eskapismus sein können, wenn Bateman zuerst The Texas Chainsaw Massacre schaut, um später seinen Mord an einer Prostituierten mit der Kettensäge an das Filmende mit Leatherface anzulehnen. “Does he murder? Does he not murder? Is it more interesting to know one way or the other?”, stellt Ellis selbst im Rolling Stones-Interview in den Raum [7].

Denn an der grundsätzlichen Deutung ändert sich in beiden Fällen wenig: Patrick Bateman ist eine Figur, die sich von ihrer Umwelt entfremdet und zu verlieren droht. Unabhängig davon, ob sie insgeheim ein Serienmörder ist, den in einer desinteressierten und egozentrischen Gesellschaft keiner wahrnimmt, oder ob sie erfolglos versucht, aus dem System normativer Konformität mit einem Anflug Individualismus auszubrechen. “I feel my mask of sanity is about to slip”, sagt Bateman anfangs. Und könnte genauso gut sein Abdriften in die Soziopathie mit den Morden als Konsequenz damit meinen, wie die Fassade, die er basierend auf Werbung und Erwartungshaltung in den Achtzigern zur Anpassung errichtet hat.

“I’m playing it real straight / and yes I cut my hair / you might think I’m crazy / but I don’t even care / ’cause I can tell what’s going on / it’s hip to be square”, singen Huey Lewis and the News fast schon hypnotisierend. Wenn Bateman sagt, er spüre nur Gier und Lust, kann dies auch als Kritik am Yuppietum verstanden werden. “Something horrible is happening inside of me and I don’t know why” ist dann die Realisierung der wachsenden Nicht-Konformität, die Morde – fiktiv oder real – ein Ausdruck dessen. “Too many people / making too many problems / and not much love to go round / can’t you see this is a land of confusion”, singen Genesis für Bateman über “the problems of abusive political authority”.

Insofern repräsentiert American Psycho weniger eine Charakterstudie als eine an einen Charakter gestützte Systemkritik. Eine “first world problems”-Gesellschaft mit der größten Sorge einer fehlenden Restaurantreservierung, während die Yuppies tatsächliche Konfliktherde wie Apartheid und Welthunger verlachen. Die Welt, in der Patrick Bateman lebt, ist gänzlich künstlich, er selbst nur eine Maske. Als „netten Typen von nebenan“ bezeichnet ihn Evelyn mehrfach im Roman [8], nicht realisierend, mit wem sie es eigentlich zu tun hat. Für Bateman bleibt da nur Eskapismus, sei es in Pop-Musik, Filmen (“I have to return some videotapes”) oder des fiktiven trashigen morgendlichen Talk-Formats der Patty Winters Show.

In The Merchant of Venice verglich Shakespeare die Welt mit einer Bühne “where every man must play a part, and mine a sad one”[9]. Die Metapher der Welt als Bühne mit Menschen als Schauspielern griff er in As You Like It erneut auf: “They have their exits and their entrances” [10]– ganz so leicht macht es Bret Easton Ellis seiner Figur nicht. Der Status quo repräsentiere eben das Leben Ende des 20. Jahrhunderts und diktiere das Benehmen der Leute. „Das ist, was Patrick zu sein für mich ausmacht, denke ich“, resümiert die Figur [11]. Ein Seufzen, ein Achselzucken, ein erneutes Seufzen und die finalen Worte „KEIN AUSGANG“[12]. Für Patrick Bateman gibt es somit kein Entkommen – mit Maske oder ohne.


Quellenangaben:

[1] vgl. Ellis, Bret Easton: American Psycho, Köln 2002, S. 20f.
[2] vgl. Schmitt jun., Wolfgang M.: Aktueller denn je: American Psycho – Kritik & Analyse, in: Filmanalyse, 25.11.2018, www.youtube.com/watch?v=8wIo161cPtY.
[3] vgl. Ellis, S. 330.
[4] vgl. Grow, Kory: ‘American Psycho’ at 25: Bret Easton Ellis on Patrick Bateman’s Legacy, in: RollingStone.com, 31.03.2016, www.rollingstone.com/movies/movie-news/american-psycho-at-25-bret-easton-ellis-on-patrick-batemans-legacy-175227/.
[5] vgl. Godfrey, Alex: Christian Bale Talks Psycho, Suicide and Blockbusters, in: SabotageTimes.com, 14.04.2015, https://sabotagetimes.com/life/christian-bale-talks-psycho-suicide-and-blockbusters.
[6] vgl. Ellis, S. 368.
[7] vgl. Grow, Internet.
[8] vgl. Ellis, S. 24, S. 33 und S. 36.
[9] vgl. Shakespeare, William: The Merchant of Venice, London 1600, Akt 1, Szene 1.
[10] vgl. Shakespeare, William: As You Like It, London 1623, Akt 2, Szene 7.
[11] vgl. Ellis, S. 549.
[12] ebd.

Szenenbilder “American Psycho”© Lionsgate Films. All Rights Reserved

A heap see, but a few know

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Es scheint ein medienethisches Dilemma: Wie ist vorzugehen, wenn ein Subjekt in einer (geplanten) Dokumentation betrunken gefilmt wird? Klären die Filmemacher die Freigabe vorab, obschon das Subjekt nicht weiß, was es womöglich im alkoholisierten Zustand alles tun oder sagen wird? Holen sie die Freigabe hinterher ein, wenn die betroffene Person nüchtern das Material sichtet? Was aber, wenn die Freigabe ausbleibt, das gedrehte Material damit unbrauchbar wird? Muss man das eigene verantwortliche Handeln berücksichtigen, wenn man unverantwortliche Menschen filmt? Und diese vor sich selbst schützen? Fragen, die dem Zuschauer womöglich während Bloody Nose, Empty Pockets kommen.

Darin halten die Brüder Bill Ross IV und Turner Ross den letzten Tag der Kneipe Roaring 20s in Las Vegas, Nevada fest. Das Etablissement wird nach vielen Jahren nunmehr geschlossen, die nächsten 24 Stunden werden zu einer einzigen Party, in der die aktuelle Kneipenhocker-Generation auf ehemalige und aktuelle Angestellte trifft. Fast fühlt man sich an Henry V erinnert: “Once more unto the breach, dear friends, once more.” Es wird getrunken und geraucht, Acid geschluckt, geweint, gelacht, geflucht, immer wieder getrunken – eine einzige lange Totenwache für die Kneipe, die dieser Gruppe Abgehängter der Gesellschaft zum Zuhause wurde, ehe nun, in 24 Stunden, auch dort die Räumung droht.

Zum Anlass des Abschieds schickt sich da selbst der 58-jährige Michael an, sich morgens (oder: vormittags) auf dem Bar-Klo zu rasieren, nachdem er mal wieder in der Sofaecke übernachtet hat. Was macht er wohl jetzt, wo es mit dem Roaring 20s zu Ende geht? “I can’t imagine that dude functioning without this place”, lässt Barkeeper Marc durchblicken. Michael will sich am Riemen reißen, Dekoration für den Abend besorgen. Wasser und Kaffee sind erstmal angesagt, ein Sandwich und Donuts, mitgebracht von John, einem anderen Dauergast, sorgen für Elektrolyte. Mit jeder Stunde, mit jedem weiteren Stammgast, der dazustößt, wird jedoch mehr gebechert. Bis es zu eskalieren droht.
 

Bloody Nose, Empty Pockets
ist ein enorm unterhaltsames, eindringliches, durchweg menschliches Dokument über eine Nischengruppe der Gesellschaft, die eher belächelt wird. Schluckspechte und Alkis, Verlierer und Versager. Er sei mal irgendwann Schauspieler gewesen, erzählt Michael an einer Stelle. “I’ve ruined my life sober”, ist er durchaus stolz, dass erst auf sein soziales Ende der Alkoholismus folgte und nicht das soziale Ende auf den Alkoholismus. Währenddessen krächzt der bereits zur Mittagszeit heillose betrunkene Ira am Nebenplatz, der 58-jährige Kneipenkollege solle sich doch erschießen. Alles schon gehört, jedes Schicksal erzählt, vermutlich dutzendfach über die Jahre hindurch, mag man sich denken.

Die Figuren im Film der Ross-Brüder wirken aus dem Leben gegriffen. Jeder wird mit einer von ihnen aus den eigenen Erlebnissen auf gewisse Weise vertraut sein, mancher sogar sie alle irgendwie wiedererkennen. Da ist Bruce, Vietnam-Veteran, der nie über den Verlust der Kameraden und die Animosität seiner Landsleute nach dem Krieg hinweggekommen zu sein scheint. “When you get lonely, you have no friends, you can always come to this bar”, fasst er seine Gefühle in einer Szene zusammen. “I fit in here.” Und damit ist er nicht alleine. Auch John, ursprünglich aus Australien stammend, bezeichnet die übrigen Bar-Insassen als seine Familie, mit der eigenen Blutsverwandschaft kann er nichts anfangen.


“I’m gonna miss it”
, gesteht selbst Shay, die im Verlauf des Tages Marc an der Bar für die finale Schicht ablöst, einer ehemaligen Kollegin. Um dann kurz darauf nachzuschieben: “Been here too long.” Den Absprung nicht geschafft, versandet in der Fata Morgana. Das scheint Angestellte und Gäste zu einen im Roaring 20s. Währenddessen philosophiert Michael mit dem Einstein-Double Felix über den Duft des Morgentaus im Gras, zieht die einsame Pam Verbindungen über Verlusterlebnisse mit einem anderen Kneipengast Im Hintergrund laufen über die Fernseher derweil alte Filmklassiker und aktuelle Nachrichtenberichte über einen Verkehrsansturm (“Carnado”) und das Ergebnis der US-Wahl von ´16.

Was ich selbst erst nach der ersten Sichtung erfuhr, aber in nahezu jeder Rezension zum Film auftaucht und damit im Grunde eigentlich kein Spoiler ist: Bloody Nose, Empty Pockets verwischt die Grenzen seines Dokumentations-Genres. Dahingehend, dass das Setting gestellt, die Figuren Laiendarsteller sind. Tatsächlich befindet sich die Kneipe gar nicht in Las Vegas, sondern in New Orleans. Die Tatsache, dass das Gezeigte zwar nicht geschrieben, aber doch in Zügen geformt ist, verleiht Bloody Nose, Empty Pockets letzten Endes aber sogar noch mehr Qualität, wenn der Film trotz seiner Gekünsteltheit derart authentisch wirkt. Die Charaktere mögen nicht echt sein, wirken aber definitiv so.


Ob das Ganze dann noch als Dokumentation deklariert werden kann, darüber waren sich nicht alle Kritiker einig [1]. Die Frage für das Genre ist letztlich, inwieweit das Bewusstsein, gefilmt zu werden, generell die Menschen beeinflusst in Dokumentarfilmen [2]. “They’re all constructions”, findet Bill Ross IV [3]. “There’s a camera in the room and we’re all performing.”[4] Und wie erwähnt, lassen sich alle diese Charaktere in Variationen im wahren Leben antreffen. Denen ein Job- oder menschlicher Verlust die Existenz vermiest hat, die außer dem abendlichen Besuch in ihrem Stammlokal nichts mehr haben, außer ihren aufgestauten Frust in Alkohol zu ertränken. Art imitates life, quasi.

Zugleich fügt sich Bloody Nose, Empty Pockets perfekt in das bisherige Œuvre der Ross-Brüder ein, die stets beleuchten, wie eine Umgebung die Menschen definiert und wie Menschen ihre Umgebung. Zum Beispiel Chad Foster, Bürgermeister der zunehmend von Drogenkartellen beeinträchtigten texanischen Grenzstadt Eagle Pass in Western oder jenen Gruppen, die in Contemporary Color in einem Tanzwettbewerb versuchen, musikalischen Kompositionen einen physikalischen Ausdruck zu schenken. “Our films are an amalgam of an experience”, sagt Turner Ross [5]. Und ebenjene Bar-Erfahrung ist genauso greifbar wie der French-Quarter-Ausflug der Zanders-Brüder in Tchoupitoulas.


Es spielt somit weniger eine Rolle, ob Michael tatsächlich im Roaring 20s seinen Rausch ausschläft, als vielmehr, dass er all diejenigen repräsentiert, bei denen dies der Fall ist. Somit finden alle, von Michael über Bruce und Ira, bis hin zu Marc, Shay und ihrem Teenager-Sohn Tra ein Spiegelbild in der Realität. Indem die Figuren also vielleicht nicht real, aber fraglos authentisch sind, lässt sich auch medienethisch manches des Gezeigten besser verdauen, darunter wenn eine betrunkene Pam im einen Moment blank zieht und im anderen Moment aus Koordinationsschwäche plötzlich ihre motorische Kontrolle verliert. Die Szenen verlieren somit etwas des Voyeuristischen, ohne an Aussagekraft einzubüßen.

“When you drank the world was still out there, but for the moment it didn't have you by the throat”, schrieb Charles Bukowski in Factotum. Für die Charaktere in Bloody Nose, Empty Pockets ist dies kein Satz, sondern eine Beschreibung ihres Alltags. Das Roaring 20s ist ein Fluchtort, wo sie sich nicht dem stellen müssen, was sie draußen auf der Straße erwartet. Was wiederum die Replik von Marc auf den Plan wirft, wie sie alle ohne die Bar funktionieren sollen? Den Ross-Brüdern gelang mit ihrem Film eine echt wirkende, in der Realität verankerte Version dessen, wovon im Cheers-Theme-Song die Rede ist: “Sometimes you wanna go, where everybody knows your name, and they're always glad you came.”
 
 
Quellenangaben:
 
[1] vgl. Gorr, Sarah: “Bloody Nose, Empty Pockets” is an ethically dicey pseudo-doc, in: The Spool, https://thespool.net/reviews/movies/2020/07/bloody-nose-empty-pockets-review/, 08.07.2020: “whether this is a documentary or not drastically affects how we interpret what we’re seeing”. Siehe auch Kenigsberg, Ben: ‘Bloody Nose, Empty Pockets’ Review: Over Drinks, a Blurry Line Between Truth and Fiction, in: The New York Times, www.nytimes.com/2020/07/09/movies/bloody-nose-empty-pockets-review.html, 09.07.2020, und Moore, Louisa: “Bloody Nose, Empty Pockets”, in: Screen Zealots, https://screenzealots.com/2020/08/31/bloody-nose-empty-pockets/, 31.08.2020.
[2] Shaffer, Marshall: Interview: Bill and Turner Ross on the Constructions of Bloody Nose, Empty Pockets, in: www.slantmagazine.com/film/interview-bill-and-turner-ross-on-the-constructions-of-bloody-nose-empty-pockets/, 09.07.2020: “Our awareness of a camera has become a real factor in the world.”
[3] ebd.
[4] ebd.
[5] ebd.

Szenenbilder “Bloody Nose, Empty Pockets”© Department of Motion Pictures. All Rights Reserved

The Death of the Light

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„Ist’s nicht möglich, daß dieser Kelch an mir vorübergehe, ohne daß ich ihn trinke“
, fragt Jesus im Garten Gethsemane am Abend seiner Gefangennahme [1]. Er weiß, was kommt, was ihn erwartet. Als Folge seiner Handlungen und Positionen. Ähnlich ergeht es Franz Jägerstätter (August Diehl) in Terrence Malicks jüngstem Film A Hidden Life. Dessen gesamter zweiter Akt schickt sich im Grunde an, ein Abwägen und Arrangieren seiner Hauptfigur mit ihrer Moral und dem damit verbundenen Schicksal zu sein. “An exercise in dread”[2], ein Hinarbeiten auf das Unausweichliche, dem die Geschichte schließlich ihren Ausgang vorweggenommen hat, wurde Jägerstätter doch am 9. August 1943 von den Nationalsozialisten wegen Zersetzung der Wehrkraft hingerichtet. 

Franz Jägerstätters Geschichte ist eine besondere – die eines Mannes, der sich im Zweiten Weltkrieg weigerte, einen Eid auf Adolf Hitler zu schwören und für dessen Armee in den Krieg zu ziehen. Aus religiösen Gründen, was letztlich aber irrelevant ist – zumindest wenn es um eine filmische Aufarbeitung durch einen Poet-Philosophen wie Terrence Malick geht. In dessen Kino verkommt Jägerstätter weniger zu dem Seligen, zu dem ihn die Katholische Kirche im Jahr 2007 ernannt hat [3], sondern zur klassischen Malick-Figur des Verlorenen, Ruhelosen, auf der Suche nach einem Ausweg aus seinem existenziellen Dilemma. Zugleich dient A Hidden Life wie so oft beim Texaner zum Grübeln, wo wir mit unserer Gesellschaft stehen, wo wir herkommen und wo wir als Zivilisation eigentlich hinwollen.

Über weite Strecken wirkt A Hidden Life wie eine Dublette von Malicks größtem Meisterwerk The Thin Red Line. Was Jägerstätter hier ist, verkörperte Private Witt (James Caviezel) dort. Das personifizierte Gute, dem das Fundament entrissen wird, als ihn der Strudel der menschlichen Gewalt gegen die Natur und den Urzustand packt. Ähnlich wie Witt hat auch Jägerstätter zu Beginn der Handlung augenscheinlich sein Paradies bereits gefunden, lebt ein zufriedenes Familienleben mit Ehefrau Fani (Valerie Pachner) und ihren drei Töchtern im beschaulichen österreichischen Sankt Radegund auf ihrem Bauernhof. Ehe diesem privaten Garten Eden der Beginn und Verlauf des Zweiten Weltkriegs und der Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich plötzlich ein Ende bereiten.


Wo Witt sich durchaus als Soldat sieht und seine Einheit als Familie, ist Jägerstätter aus seinem Element gerissen, kann mit der Wehrmacht als solcher und Hitlers Agenda prinzipiell nichts anfangen. “What’s happened to our country?”, fragt er, als er den Wahn der Nazi-Propaganda sich in seinem Dorf Bahn brechen sieht. “The mask is off”, sagt der Dorf-Müller (Johannes Krisch) – und könnte einerseits über Hitler selbst sprechen, andererseits über seine Anhänger und deren ungeahnten Ressentiments. “Don’t they know evil when they see it?”, meint der Müller, während er und Jägerstätter beobachtend am Rande stehen. “This great evil. Where does it come from?”, hinterfragte Private Train in The Thin Red Line. “How did we lose the good that was given us?”

Einen weiteren moralischen Gleichgesinnten findet Jägerstätter in seinem Schwiegervater (Ulrich Matthes). “Is this the death of the light?”, wirft dieser in den Raum. Unterdessen verweigert sich Jägerstätter dem Hitler-Gruss („Pfui Hitler!“, entgegnet er an einer Stelle), genauso wie einer Geldspende für Kriegsveteranen. Was auch in seinem Dorf nicht gut ankommt, nicht zuletzt, weil es ein schlechtes Licht auf dessen Bewohner als Ganzes wirft. “You are worse than them”, wirft ihm der Bürgermeister (Karl Markovics) an den Kopf – wobei interessanter Weise nicht klar wird, wen er damit meint: die Feinde des Deutschen Reichs oder die Nazis. Der Bürgermeister und alle anderen machen letztlich, was Jägerstätter nicht kann: Ihre Ideale verraten, des Überlebens Willen.

Es ist eine eigene Form des Widerstands, gänzlich nicht-aggressiv und dadurch womöglich noch sehr viel verletzender. “He makes a choice for you, too”, erinnert Fanis Schwester Resie (Maria Simon) diese. Und auch der lokale Priester Fürthauer (Tobias Moretti) weist Jägerstätter auf die Folgen seines Tuns für seine Familie hin. Diese wird in Kollektivschuld genommen, geächtet, beleidigt, bestohlen. Das Zureden mehrerer Beteiligter auf Jägerstätter erinnert ebenfalls wieder an The Thin Red Line. “What difference do you think you can make? One single man in all this madness”, will Sergeant Welsh dort von Witt wissen. Darin liegt im Prinzip die Quintessenz: Der Unterschied des Handelns hat keine Auswirkungen auf das Umfeld der Figur, aber doch für diese selbst.


Schaut man sich die Rezeption von A Hidden Life an, wird beim Blick auf wenig gönnerhafte Rezensionen schnell klar, was der Hauptkritikpunkt zu sein scheint: die fehlende Vertiefung von Jägerstätters letztlicher Entscheidungsfindung. “Malick doesn’t really articulate Jägerstätter’s moral realization”, bemängelt Dowd da [4]. Vielmehr “yada-yada-yadas right through its protagonist’s moment of clarity”[5]. Die Beweggründe für das Handeln der Figur würden „eher angedeutet als plausibel dargelegt“, erscheinen „so eher fühl- als begreifbar“[6]. McCarthy sieht in der fehlenden Dramatisierung des Innenlebens und der Realisierung dann vor allem eine verpasste Chance, “an empty plate where a significant moral, religious and intellectual meal was available for the taking”[7].

Für Steinitz eine „provozierende[n] Nicht-Entwicklung seiner Hauptfigur“[8]. Malick „interessiert sich weniger für die dramatischen Wendepunkte einer Geschichte als für den Fluss der Zeit, in dem seine Protagonisten ihre Entscheidungen treffen“[9]. Es wird offensichtlich, dass sich manche Kritiker eher eine klassische Biografie erhofft hatten, eine historische Aufarbeitung, ein staubiges Nazi-Drama, wie es der deutsche Film seit Jahrzehnten zu seiner Pflichtaufgabe gemacht hat. Aber Malick, ähnlich wie Jägerstätter, bleibt sich und seinen Prinzipien treu, “characteristically omits the major decisions that lead Franz to his fate, choosing instead to focus on the soul-searching that guides his decisions, and the anguish that they cause”, wie Ehrlich kommentiert [10].

A Hidden Life dreht sich weniger um die Person Franz Jägerstätter, wie auch seine übrigen Filme sich nie um einzelne Protagonisten drehen, sondern einen Zustand. Es geht ihm nicht um das Individuelle, sondern das Universelle. Den Figuren mangelt es an Charakterisierung “not because they are passive or empty, but because we are meant to view them as one with the world around them. Their struggles are the struggles of the world”[11]. Dass Malick „derart drastisch verkürzt und strafft, zuspitzt und weglässt, dass der Film an der historischen Person nur insofern Interesse hat, wie weit sie sich seinem ästhetischen Wollen und seinem Weltbild unterwirft“[12] markiert also die Handschrift des Regisseurs. Jägerstätter steht exemplarisch, gerät aber dabei nicht zum Exempel.


Das historische Dilemma der Figur dient Malick damit eben als Mittel zum Zweck wie zuvor der Pocahontas-Mythos in The New World. Ziel ist nicht eine möglichst authentische Aufarbeitung der Geschichte, sonder mittels einer geschichtlichen Grundlage eine Aussage über das Allgemeine. Dies auf die für den Regisseur typische Weise, obschon ihm zumindest positiv zugeschrieben wurde, dass A Hidden Life wieder narrativ linearer geraten ist als seine jüngsten Werke [13]. Für generelle Kritiker seines Schaffens aber scheint auch das zu wenig. Die einen sehen folglich lediglich “three hours of digressive meanderings”[14], eines frommen Mannes “standing his moral ground”[15], andere erachten den Film unterdessen als “ponderous and dull (…) that general navel-gazing trend”[16].

Ähnlich wie Malick Repetition vorgeworfen wird [17], ist dieser Vorwurf mit den Jahren und seinen avantgardistischen Werken wie Knight of Cups und Song to Song repetitiv. Dowd stört sich an “improvised memory poems” und einem weiteren “whispery ballet of nature”[18], Bach an „möchtegern-erhabenen Aufnahmen“ sowie der „pseudophilosophische[n] Prätention“ und dem „erschöpfende[n] Panorama-Pathos“ des Films [19]. Es ist keine neue [20] und auch keine lauter werdende Kritik [21], selbst wenn Zacharek, ohnehin kein Fan des Regisseurs [22], auszumachen glaubt, dass “Malick no longer receives near-universal hosannas, which is probably for the best”[23]. Zugleich auch kein Œuvre-Best-of des texanischen Auteurs, als das es Zoller Seitz erachtet [24].

Eher hält sich Terrence Malick noch zurück, reduziert dieses Mal die Zahl der aus dem Off gesprochenen Monologe und Sinnfragen an Gott und die Welt. Vielmehr ist A Hidden Life letztlich eine Spur zu linear, zu strukturiert, um seine ganze Kraft zu entfalten, die in ihm und der Geschichte steckt. Der Vorwurf müsste folglich also lauten, dass sich Malick zu sehr an der Historie um Jägerstätter festklammert, als dass er ihr nicht vollends gerecht werde. Im Kern ist es zwar immer noch derselbe Film, den er in Variationen neu erzählt, “a gorgeously expansive cinematic poem that is forever carving out fresh emotional tributaries”[25], aber dabei doch zu sehr an der Oberfläche – weniger der Geschichte, wie McCarthy kritisiert [26], sondern der zu gewöhnlichen Form ihrer Inszenierung.


Wie Franz Jägerstätter zu seiner Entscheidung kam, ist dabei an sich hinlänglich und nicht relevant; die Frage selbst demaskierend angesichts dessen, dem er sich widersetzt (“Don’t they know evil when they see it?”, fasste es der Müller zusammen). A Hidden Life dreht sich nicht darum, wie ein Mensch sich zu Jägerstätters Beschluss des Widerstands ringt, sondern die Akzeptanz dieser Entscheidung sowohl seitens der Figur als auch ihrer Umwelt. Letztere wird in verschiedenen Figuren dargestellt, seien es Geistliche wie Fürthauer und Bischof Fließer (Mikael Nyqvist) oder Bürokraten wie Jägerstätters Strafverteidiger Feldmann (Alexander Fehling) und der von Bruno Ganz verkörperte Richter Lueben, der am Ende das Todesurteil über Jägerstätter sprechen muss.

Wenn El-Bira schreibt, dass die Figur anders als die meisten anderen des Regisseurs in diesem Fall kein Suchender (mehr) sei, „sondern einer, der den Sinn längst gefunden hat“[27], dann stimmt das insofern, als dass Jägerstätter eine der wenigen Charaktere Malicks mit Liebesglück ist. Wo die anderen Figuren seine Entscheidung nicht nachvollziehen können, ist dies bei Fani kein Problem. Sie trägt den Beschluss ihres Mannes mit, beide Figuren wirken immer eins, repräsentativ von Kameramann Jörg Widmer – der hier nach vielen Jahren Emmanuel Lubezki ablöst – eingefangen, wenn Franz und Fani synchron auf dem Feld mit der Sense das Getreide ernten. “How simple life was then”, reflektiert Fani in einer Szene das vergangene Glück, das die Realität eingeholt hat.

Selbst wenn Tallerico und Ehrlich dies anders sehen mögen [28] [29], und obschon Jägerstätter seinen Widerstand mit seinem Glauben rechtfertigt, ist A Hidden Life wie Malicks übrigen Filme kein allzu religiöser, aber deswegen auch nicht enttheologisiert, wie McCarthy meint [30]. Gott und Glaube sind identisch mit dem Streben, das allen seinen Figuren innewohnt. Es geht ihm weniger um Religion, sondern um “the disruption of the natural world caused by man’s cruelty”[31]. “Better to suffer in injustice than to do it”, sinniert Jägerstätters Schwiegervater, während Fani an “the triumph of the good” appelliert. Wenn Bischof Fließer zu Jägerstätter sagt “the anvil outlives the hammer”, kann Jägerstätter also auch genauso gut der Amboss sein – und nicht der Hammer.



Quellenangaben:

[1] s. Mt 26, 42, in: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1999.
[2] s. Tallerico, Brian: TIFF 2019: A Hidden Life, The Traitor, in: RogerEbert.com, www.rogerebert.com/festivals/tiff-2019-a-hidden-life-the-traitor, 05.09.2019.
[4] s. Dowd, A.A.: Terrence Malick returns to the past and scripted drama, but not to form, with A Hidden Life, in: A.V. Club, https://film.avclub.com/terrence-malick-returns-to-the-past-and-scripted-drama-1834888231, 20.05.2019.
[5] ebd.
[6] s. Kurz, Joachim: Ein verborgenes Leben, in: Kino-Zeit, www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/ein-verborgenes-leben-2019.
[7] s. McCarthy, Todd: ‘A Hidden Life’: Film Review, in: The Hollywood Reporter, www.hollywoodreporter.com/review/a-hidden-life-review-1212083, 19.05.2019.
[8] s. Steinitz, David: Mal länger als ein paar Netflix-Minuten, in: Süddeutsche Zeitung, www.sueddeutsche.de/kultur/ein-verborgenes-leben-august-diehl-terrence-malick-1.4774739, 28.01.2020.
[9] ebd.
[10] s. Ehrlich, David: ‘A Hidden Life’ Review: Terrence Malick’s Best Movie Since ‘The Tree of Life’, in: Indiewire, www.indiewire.com/2019/05/a-hidden-life-review-terrence-malick-cannes-1202142833/, 19.05.2019.
[11] s. o.A.: Transcending Heidegger – The Cinema Of Terrence Malick, in: Like Stories of Old, www.youtube.com/watch?v=Oohg3LZd898&t=2s, 14.06.2020.
[12] s. Kurz, Internet.
[13] vgl. Ehrlich, Internet: “Malick is in dire need of the bumper lanes that a linear narrative provides”.
[14] s. Travers, Peter: ‘A Hidden Life’: Terrence Malick’s ‘Return to Form’ Still Feels Like a Miss, in: Rolling Stone, www.rollingstone.com/movies/movie-reviews/hidden-life-movie-review-terrence-malick-924963/, 10.12.2019.
[15] s. Dowd, Internet.
[16] s. Harkness, Alistair: Film reviews: Bombshell | A Hidden Life | Just Mercy | Be Natural: The Untold Story of Alice Guy-Blaché | Weathering With You, in: The Scotsman, www.scotsman.com/arts-and-culture/film-and-tv/film-reviews-bombshell-hidden-life-just-mercy-be-natural-untold-story-alice-guy-blache-weathering-you-1397098, 16.01.2020.
[17] vgl. Dowd, Internet: “these devices have lost some of their novelty and mystery and power since Malick refined them into what could be called his mature style” sowie “numerous, frankly repetitive scenes of the once-friendly townsfolk ostracizing Jägerstätter’s family”.
[18] ebd.
[19] s. Bach, Lida: Terrence Malick drenches nazi-opposer biopic „A Hidden Life“ in pious pastoral pretension, in: Cinemagicon, www.cinemagicon.com/10380/.
[20] s. Pilarczyk, Hannah: Unvergesslich. Terrence Malicks Weltkriegsdrama „A Hidden Life“, in: Spiegel Online, www.spiegel.de/kultur/kino/terrence-malick-weltkriegsdrama-a-hidden-life-in-cannes-unvergesslich-a-1268198.html, 19.05.2019: „Dann überraschte er damit, dass viele der Filme, die er in ungewöhnlich schneller Taktung folgen ließ, gar nicht mal so gut waren“.
[21] s. Ehrlich, Internet: “Malick has finally rediscovered his conviction and returned to solid ground”.
[22] s. Zacharek, Stephanie: Cannes Review: Terrence Malick Returns, Virtuously, With Pious Nazi Prison Drama A Hidden Life, in: Time, https://time.com/5591998/cannes-review-terrence-malick-hidden-life/, 20.05.2019: “I do not find his films moving and mystical; I have rarely found them even bearable”.
[23] ebd.
[24] s. Zoller Seitz, Matt: A Hidden Life in: RogerEbert.com, www.rogerebert.com/reviews/a-hidden-life-movie-review-2019, 13.12.2019: “a career summation (…) combining stylistic elements from across Malick’s nearly 50-year filmography”.
[25] s. Chang, Justin: Cannes. Terrence Malick’s ‘A Hidden Life’ is a return to form and a spiritual call to arms, in: Los Angeles Times, www.latimes.com/entertainment/movies/la-et-mn-cannes-terrence-malick-hidden-life-20190519-story.html, 19.05.2019.
[26] s. McCarthy, Internet: “just when you ache for the film to begin to go deeper, it instead starts flatlining”.
[28] s. Tallerico, Brian: TIFF 2019: A Hidden Life, The Traitor, in: RogerEbert.com, www.rogerebert.com/festivals/tiff-2019-a-hidden-life-the-traitor, 05.09.2019: Malick “has been searching for meaning and questioning faith in arguably all of his films” sowie“feels like a more spiritually confident film than his recent works”.
[29] s. Ehrlich, Internet: “cinema’s most devout searcher, his faith and uncertainty going hand-in-hand”.
[30] s. McCarthy, Internet: “desperately indulgent and puzzlingly de-theologized”.
[31] s. Tallerico, Internet.

Szenenbilder “A Hidden Life”© Pandora Film. All Rights Reserved




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